Ein durch und durch moderner Mann
Was kümmert uns im 21. Jahrhundert ein Theologe des 4. Jahrhunderts? Was kann jemand, der schon so lange tot ist, für uns bedeuten? Die Antwort könnte überraschen.
Die moderne Psychologie verdankt Augustinus einiges, denn sein Studium des menschlichen Willens schuf wesentliche Grundlagen für die Identitätsforschung. Seine Theologie brachte die Erforschung des Willens durch seine griechischsprachigen Zeitgenossen von der Ontologie [der Lehre vom Sein] zur Psychologie [der Lehre vom menschlichen Geist]. Er schuf ein neues literarisches Genre, denn in seinem autobiographischen Werk, den Bekenntnissen, lädt er den Leser in sein Denken ein, statt nur die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Dies sind nicht einfach Schuldbekenntnisse oder eine Beichte, wie sie in der Kirche üblich wurde, sondern ein Bekenntnis zu Gott und seiner Existenz. Die Bekenntnisse sind wahrscheinlich die erste Autobiographie, deren Autor versuchte, seine eigenen Motive zu ergründen, lange bevor Freud dies zum Beginn des 20. Jahrhunderts tat.
Für Augustinus gehörten das Wesen des menschlichen Geistes und seine psychologischen Prozesse zum Studium der Welt des Geistes, der wahren Welt seiner philosophischen Mentoren. Der Professor für Theologiegeschichte Andrew Louth sah Augustinus Plotin, den Begründer des Neoplatonismus, als einen Meister der Mysterien, insbesondere der Mysterien des inneren Lebens (The Origins of the Christian Mystical Tradition, 1981). Augustinus suchte Episoden der Bewusstseinserweiterung oder „Ekstase“, wie er sie nannte. Hierin hat ihm die mittelalterliche Mystik viel zu verdanken. Damit ist jedoch seine Wirkung nicht zu Ende. Sein Interesse an den Prozessen der Psyche und dessen, was er als Welt des Geistes sah, hat noch viel tiefgreifendere Nachwirkungen in unserer Gesellschaft.
Heute würden wir Augustinus' Begriff der Ekstase mit der Auffassung in Verbindung bringen, dass nur das von Bedeutung ist, was das Individuum subjektiv im Geist erlebt. Diese Auffassung unterstützten die Existenzialisten und Phänomenologen des 19. und 20. Jahrhunderts. Doch sie kam aus einer philosophischen Strömung, die über Søren Kierkegaard und Edmund Husserl bis zu René Descartes und Augustinus zurückreicht.
Augustinus' Lehre, dass Worte Zeichen sind, wird auch von der analytischen Philosophie bestätigt, die Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein im frühen 20. Jahrhundert begründeten, sowie in der postmodernen Literatur mit Schriftstellern wie Jacques Derrida und Michel Foucault.
Augustinus war in der Tat ein moderner Mann - seiner Zeit um 1500 Jahre voraus.