Jakobus und Paulus: Warum der Konflikt?

Die meisten Bibelgelehrten zeichnen Jakobus und Paulus als Gegenspieler, die in der Debatte über Glauben und Werke gegensätzliche Meinungen hatten. Waren sich diese beiden Nachfolger Jesu tatsächlich uneinig? Eine Untersuchung der Ursprünge dieser Vorstellung ist ein wichtiger erster Schritt in Richtung einer Antwort auf diese Frage.

In Vision haben wir bereits James D. Tabors letztes Buch Die Jesus Dynastie rezensiert. Tabor präsentiert Jakobus, den Bruder Jesu, als dessen späteren Nachfolger in der Führung seiner Bewegung. Wir haben zwar auf einige Probleme in Tabors Analyse hingewiesen, andererseits aber begrüßt, dass jemand Jakobus Aufmerksamkeit schenkt, da dies sehr selten geschieht.

Die derzeit einzige wirklich umfassende Studie über den Apostel ist Robert Eisenman’s umfangreiches Werk James the Brother of Jesus: The Key to Unlocking the Secrets of Early Christianity and the Dead Sea Scrolls (1997). Der tausendseitige Wälzer ist eines der wenigen Werke der jüngsten Zeit, die sich dem Thema Jakobus zuwenden und bietet sorgfältig dargelegtes Beweismaterial über den Apostel. Dass dies von einem Akademiker stammt, der in seinen Kreisen als Einzelgänger gilt, zeigt auch, wie sehr dieses Thema an den Rand gedrängt wird. Im Gegensatz zu anderen Abhandlungen, in denen vorwiegend darüber argumentiert wird, ob Jakobus nun ein Halbbruder oder Cousin Jesu war (abhängig von der Frage, ob Maria nun Jungfrau blieb oder nicht), befasst sich Eisenman ausführlich mit allen relevanten Fakten, die wir über den Mann haben. 

Leider basiert Eisenman’s Arbeit auf der Prämisse, dass das Neue Testament eine Unstimmigkeit zwischen Jakobus und Paulus aufzeige. Diese Vorstellung stützt sich zum Teil auf Schriften aus dem zweiten bis vierten Jahrhundert. Eisenman übersieht offensichtlich wie viele seiner Kollegen, dass einige frühe Kommentatoren die biblischen Berichte verzerrt wiedergegeben haben, was zu einer hochgradigen Missinterpretation der Schrift geführt hat. Man wollte der Kirche eine von den jüdischen Wurzeln unabhängige Identität verschaffen, indem man einen Konflikt zwischen der Kirche und allem, was jüdisch ist, heraufbeschwor. Spätere Theologen haben die Dinge noch verschlimmert und diese Trennung der beiden Identitäten noch vertieft. Eisenman, Tabor und viele ihrer Kollegen sind deshalb heute davon überzeugt, dass es fundamentale Differenzen zwischen den Lehren des Jakobus und Paulus gegeben habe, die zu einem Machtkampf der zwei Apostel geführt hätten und einer daraus resultierenden Marginalisierung von Jakobus. 

Das entspricht allerdings durchaus nicht dem, was wir im Neuen Testament lesen. 

GESETZ UND ORDNUNG 

Waren Jakobus und Paulus über die Absicht und Anwendung von Jesu Lehren wirklich uneins? In der protestantischen Welt von heute wird Jakobus in einem Licht gesehen, das stark vom Denken Martin Luthers geprägt ist, der den Jakobusbrief im Neuen Testament als „Stroh-Epistel“ sah, nicht wert, als Teil der Schrift betrachtet zu werden. Tatsächlich steht der Brief im Widerspruch zu Luthers eigenen Ideen über Gesetz und Gnade. Jakobus Bezug auf das „königliche Gesetz“ vertrug sich zweifellos nicht mit dem, was Luther fälschlicherweise als offene Verdammung des Gesetzes in Paulus’ Brief an die Galater interpretierte, wodurch das Alte Testament in der sich entwickelnden protestantischen Welt einen zweitklassigen Status einnahm. Um diese Sichtweise zu rechtfertigen, mussten Luther und seine Nachfolger zwangsläufig einen theologischen Widerspruch zwischen Paulus und Jakobus über das Thema Glauben und Werke entdecken. 

Ein sorgfältiges Studium des Jakobusbriefes zeigt jedoch, dass sein Verständnis von Glauben und Werken keineswegs im Widerspruch zu Paulus steht, er konzentriert sich lediglich auf einen anderen Aspekt im Leben der Gläubigen. Die Vorgehensweisen beider Männer sind fest in den Beispielen verankert, die sie aus den Hebräischen Schriften (dem Alten Testament) entnommen hatten. 

Luther war gewissermaßen Erbe einer langen Tradition, die auf Kosten des Alten Testaments Jakobus’ Rolle herunterspielte und die von Paulus erhöhte. Trotz der Versuche Marcions, im 2. Jahrhundert das Neue Testament auf die Schriften von Paulus und das Lukasevangelium zu reduzieren, gibt es Belege von der Inkorporation des Jakobusbriefes in den offiziellen Kanon der Heiligen Schrift, wodurch seine Wichtigkeit herausgestellt wurde. Wenn Jakobus und Paulus in ihren Ansichten tatsächlich so gegensätzlich gewesen wären, wie uns manche Gelehrte weismachen wollen, wäre der Kanonisierungsprozess wohl die ideale Gelegenheit gewesen, Jakobus ein für alle Mal aus der Schrift herauszuhalten. 

Origenes, der im späten 2. Jahrhundert oder dem frühen 3. Jahrhundert aus Ägypten schrieb, betrachtete den Jakobusbrief im Gegensatz zu den „echten“ Briefen als „zwiespältig“; solche Schriften fielen nach seiner Klassifizierung in die Gruppe „zweifelhaft“. Andererseits erkennt Origenes den Wert des Jakobusbriefs; er demonstriert dies in einer Parabel, die er in seiner siebten Moralpredigt über Josua niederschrieb. Er verglich darin das Neue Testament mit den Posaunen, die vor Jericho geblasen wurden. Die vier Evangelisten (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) repräsentierten in dieser Geschichte jeweils eine Posaune und jedes ihrer Bücher war wie der Schall einer Posaune. Jakobus und die anderen Autoren der Allgemeinen Briefe (Petrus, Johannes und Judas) – auch katholische [gr.-mlat.: allgemein] Briefe genannt, da sie nicht an eine spezielle Gemeinde oder Person gerichtet waren – verglich er ebenso mit einem Schall einer Posaune. Paulus und seine Schriften, die er als Höhepunkt des Neuen Testaments betrachtete, repräsentieren in dieser Parabel die Posaunen, die die Mauern von Jericho zum Einsturz brachten. Origenes schlug vor, das Neue Testament auf eine solche Weise zu ordnen, dass die Paulusbriefe zum Schluss kamen, da sie in seiner Sicht den Gipfel der Apostolischen Schriften darstellten. 

Diese Ordnung ist den meisten Bibellesern von heute allerdings nicht geläufig. Als man die Schriften der Apostel zusammenstellte, vertauschte die sich in Italien und Nordafrika entwickelnde Kirche die Anordnung der zwei Abteilungen der Briefe. Der Muratorische Kanon zum Beispiel, in Latein verfasst, und zwar höchstwahrscheinlich um 170 n.Chr. in Rom, setzte die Paulusbriefe vor die Allgemeinen Briefe. In Rom zog man es verständlicherweise vor, den Römerbrief gleich nach der Apostelgeschichte zu platzieren. Das scheint einerseits zweifellos logisch – die Apostelgeschichte endet ja mit Paulus’ Aufenthalt in der Hauptstadt des Kaiserreiches. Diese Vorgehensweise schuf jedoch eine künstlich erzeugte Betonung auf Rom, es wurde der Eindruck erweckt, dass die Stadt ein wichtiger biblischer Ort sei und so wurde die nachfolgende Erhöhung als Bischofssitz gerechtfertigt. 

Im späten 4. Jahrhundert, als Papst Damasus I. danach strebte, Rom formell als Zentrum der Kirche zu etablieren, autorisierte er Hieronymus, eine neue Übersetzung der Heiligen Schrift ins Lateinische zu erstellen. Sie ist bis heute als die „Vulgata“ bekannt, eine Bibelversion, die bis zur Zeit der Reformation verschiedene Überarbeitungen erlebte. Hieronymus folgte der im Westen gebräuchlichen Ordnung und setzte die Paulusbriefe über die anderen, eine Anordnung, die seither in fast allen nachfolgenden Übersetzungen übernommen wurde. 

WER IST DER ERSTE? 

1500 Jahre später, im 19. Jahrhundert, treffen wir auf anerkannte Textgelehrte, die das zusammengetragen haben, was wir als „kritische Texte“ kennen: Lachmann und Tischendorf in Deutschland, Tregelles und das Team von Westcott und Hort in Großbritannien. Sie alle haben die Allgemeinen Briefe vor jene von Paulus gesetzt und folgten damit dem Beispiel, das sie in zwei berühmten Manuskripten des vierten oder fünften Jahrhunderts gefunden hatten, dem Vaticanus und Alexandrinus und nicht der Ordnung des damals gebräuchlichen Sinaiticus, den Hieronymus offenbar vorzog.F.H.A. Scrivener, ein anderer bedeutender Textgelehrter des 19.Jahrhundert, sagte über die vorhandenen Manuskripte des Neuen Testaments: „Ob Kopien nun das Ganze oder nur Teile … enthalten, die allgemeine Anordnung der Bücher ist wie folgt: Evangelien, Apostelgeschichte, Katholische [Allgemeine] Briefe, Paulusbriefe, Apokalypse.“ Er fuhr dann fort und listete jene Manuskripte auf, die von dieser Ordnung abwichen. Eine flüchtige Untersuchung aller gegenwärtig vorhandenen Manuskripte zeigt, wie oft ein Fragment, das die Apostelgeschichte enthält, direkt anschießend die Allgemeinen Briefe anführt. 

Diese Anordnung der Bücher wird auch durch Aussagen der Kirchenväter des 1. Jahrhundert bestätigt. In seiner Abhandlung über „Die göttlichen Schriften“ hat Cyrill von Jerusalem die Allgemeinen Briefe nach der Apostelgeschichte und vor den Paulusbriefen eingeordnet. Es schrieb: „Im Neuen Testament gibt es nur die vier Evangelien, der Rest hat falsche Titel und ist Unfug … Nehmt auch auf die Taten der zwölf Apostel [Apostelgeschichte]; und zusätzlich dazu die sieben Katholischen Briefe von Jakobus, Petrus, Johannes und Judas; und als Siegel über allen, das letzte Werk der Jünger, die vierzehn Briefe des Paulus“ (The Nicene and Post-Nicene Fathers, Second Series, Vol. 7, Cyril of Jerusalem, Lecture 4:36). Der Kanon 60 der Synode von Laodizäa (363 n.Chr.) unterstützt auch die Anordnung der Schriften in dieser Weise. 

James Moffat, ein Bibelgelehrter des frühen 20. Jahrhunderts entwarf eine Tabelle mit der Anordnung der Bücher nach den verschiedenen Texten in denen sie erwähnt wurden. Es scheint wiederum, dass man im Westen eine bevorzugte Ordnung hatte, wie wir sie heute sehen, wie sie im 4. Jahrhundert durch Hieronymus geschaffen wurde, obwohl Augustinus, ein Zeitgenosse Hieronymus’, sogar so weit ging, Paulus’ Briefe vor die Apostelgeschichte zu setzen. 

IM KONTEXT GESEHEN 

Was hat das alles zu bedeuten? Die künstlich hergestellte Verbindung zwischen der Apostelgeschichte und dem Römerbrief, geschaffen, um die Vorherrschaft der Kirche in Rom zu untermauern, wurde schon aufgezeigt. Die frühere Anordnung der Schriften des Neuen Testaments etabliert ein eindeutig judaistisches Leitmotiv durch die Schriften von Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, bevor man zu Paulus kommt. Paulus’ Kommentare über die Thora (das Gesetz) sind insofern im Kontext mit dem zu sehen, was vor ihm kommt. 

Wie schon ausgeführt, haben jene, die Paulus für ihre eigenen Vorstellungen missbrauchten, Reibungen postuliert, von Konkurrenz und Feindschaft zwischen Paulus und den anderen Aposteln gesprochen – die Heilige Schrift selbst bestätigt dies nicht. Paulus’ eigene Aussagen, dass Jakobus, Petrus und Johannes „vor mir Apostel waren“, und von den Gläubigen „als Säulen angesehen wurden“ (Galater 1, 17; 2, 9) kann man schwerlich als sarkastische Nebenbemerkungen abtun, wie einige Gelehrte anmerken. Sie sollten als ernsthafte Anerkennung für die Art und Weise angesehen werden, wie Christus seine Kirche etabliert hatte. Paulus’ weitere Hinweise auf Jakobus sind in einem eindeutig positiven Rahmen gehalten und zeigen, dass Paulus ihn und die anderen Apostel als Beispiele betrachtete, denen man nachfolgen sollte (1. Korinther 9, 5; 15, 7-9). 

Gelehrte wie Martin Hengel, N.T. Wright, Paula Fredriksen, John G. Gager, Amy-Jill Levine, Pamela M. Eisenbaum und andere haben eine bemerkenswerte Arbeit geleistet und Paulus wieder in seinen jüdischen Kontext versetzt, sodass Paulus selbst nun mehr und mehr als der Thora treu (gesetzestreu) gesehen wird. Tabor und andere, die sich auf Jakobus konzentrieren, müssen dessen Beziehung zu Paulus genau betrachten und die Gemeinsamkeiten in ihren Schriften. Wenn man das Neue Testament genau liest, zeigt es eine jüdische Gruppe in Einigkeit, die bereit ist, heidnische Gottesfürchtige aufzunehmen und ihnen allen denselben gesetzestreuen Lebensweg zu lehren (Galater 5, 13-14; Jakobus 2, 8-9). Das Prinzip gilt für „… die Juden zuerst und ebenso die Griechen“ (Apostelgeschichte 1, 8; Römer 1, 16); es wurde von allen anfänglichen Kirchenführern aufrechterhalten, sei es nun Jakobus, Paulus oder irgendein anderer der Apostel. 

Nur wenn wir dahin gelangen, das ganze Neue Testament auf gleicher Höhe mit dem Alten zu würdigen, können wir wieder vollständig erfassen, was Jesus von Nazareth beabsichtigte und was seine Jünger gelehrt haben.