Mysteriöse Christenverfolger: Paulus und die Kritiker in Kolossä

Das Neue Testament enthält einen Bericht über religiöse Verfolgung, der Rätsel aufgibt: Über die Identität der Gegner wird seit zwei Jahrtausenden spekuliert.

Viele westliche Länder lassen ihren Bürgern heute eine gewisse Freiheit bei der Ausübung ihrer Religion. Trotzdem ist religiöse Verfolgung nichts Ungewöhnliches. Das Problem hat eine lange Geschichte und diese ist durchsetzt mit Gräueln wie dem Holocaust, der Inquisition, den Kreuzzügen und der Kampagne des römischen Kaisers Nero gegen die frühen Christen.

Natürlich waren nicht alle Verfolgungen so extrem. Die Bibel selbst gibt Beispiele für Schwierigkeiten, die Gläubige im ersten Jahrhundert wegen ihres Glaubens hatten. In manchen Fällen wurden die Apostel durch die damalige religiöse Obrigkeit in ihren Möglichkeiten eingeschränkt; in anderen unterwanderten falsche Lehrer die Gemeinden, um ihre Mitglieder unter Druck zu setzen, zu verunsichern und zu ihrem eigenen Denken und Handeln zu verleiten.

Der Apostel Paulus sprach in seinen Briefen einige Probleme dieser Art an (s. „Gegnerische Kräfte“), doch ist die genaue Lage nicht immer sofort ersichtlich. Dies ist auch der Fall bei seinem Brief an die Gemeinde von Kolossä, einer Stadt in der heutigen Türkei.

Es ist klar, dass Paulus die Gemeinde in Kolossä vor einer Gruppe von Leuten warnte, die sie bezüglich ihrer Praktiken unter Druck gesetzt hatten. Er schrieb: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus … So lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats. Das alles ist nur ein Schatten des Zukünftigen … Lasst euch den Siegespreis von niemandem nehmen, der sich gefällt in falscher Demut … Wenn ihr nun mit Christus den Mächten der Welt gestorben seid, was lasst ihr euch dann Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt: Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren? Das alles soll doch verbraucht und verzehrt werden. Es sind Gebote und Lehren von Menschen, die zwar einen Schein von Weisheit haben durch selbst erwählte Frömmigkeit und Demut und dadurch, dass sie den Leib nicht schonen; sie sind aber nichts wert und befriedigen nur das Fleisch“ (Kolosser 2, 8-23). Doch wer waren diese Verfolger? Hier setzt die Kontroverse um den Kolosserbrief an.

Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist mehr als ein rein akademisches Anliegen. Die Diskussion um die Verfolger dient auch als Beispiel dafür, dass weithin akzeptierte Auslegungen von Bibelpassagen im Licht neuer Erkenntnisse vielleicht revidiert werden müssen. Die gängige Auslegung ist nicht unbedingt die richtige.

DIE HERKÖMMLICHE AUSLEGUNG 

Über Jahrhunderte bemühte sich die Bibelwissenschaft, die Kritiker von Kolossä zu identifizieren. Es war deshalb von erheblicher Bedeutung, als der protestantische Theologe J. B. Lightfoot im 19. Jahrhundert zu der richtungweisenden Schlussfolgerung gelangte, die Gegner, mit denen es Paulus in Kolossä zu tun hatte, seien gnostische Juden gewesen. Andere Kommentatoren schlossen sich seiner These bereitwillig an. Sie passte zu der katholischen und evangelischen Lehrmeinung, die Urkirche habe nicht mehr nach dem „jüdischen“ Gesetz mit den Speisevorschriften, dem Sabbat am siebten Tag und den Feiertagen der hebräischen heiligen Schrift gelebt. Nach dieser vorherrschenden christlichen Lehrmeinung implizierte Vers 16 („lasst euch nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumondes oder Sabbats“), dass die Kritiker nach dem Gesetz lebten und die Kirche dafür verurteilten, diese Praktiken aufgegeben zu haben; daher mussten die Kritiker aus dem Judentum kommen. Außerdem erwähnte Paulus die Philosophie und die Beziehung zwischen materieller und spiritueller Welt; daraus folgte, dass diese Juden von hellenistischer Philosophie beeinflusst und daher auch Gnostiker waren.

Als Lightfoot diese Identifikation vornahm, war über die Gnostiker sehr wenig bekannt, doch das änderte sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit der Entdeckung der Bibliothek von Nag Hammadi im Jahr 1945 und der Übersetzung und Publikation jener Dokumente wurde ein viel besseres Verständnis des Gnostizismus möglich. Es wurde z. B. klar, dass diese Bewegung erst im 1. Jahrhundert aufkam und noch nicht in zusammenhängender oder organisierter Form existierte. Außerdem passen einige der Ausdrücke, mit denen Paulus die Gegner in Kolossä beschrieb, einfach nicht zum Gnostizismus, wie man ihn inzwischen versteht. Auch lassen sich nicht alle Beschreibungen mit dem Judentum des 1. Jahrhunderts in Verbindung bringen. Infolgedessen haben viele Theologen heute die Vorstellung aufgegeben, die Gegner der Kirche in Kolossä seien Juden und/oder Gnostiker gewesen (s. „Verborgene Wurzeln des Christentums“ und „Kirchengeschichte auf dem Prüfstand“).

Anfang der 1970er-Jahre gab es schon 44 mögliche Verdächtige, und seither ist die Liste noch länger geworden. Die neuesten Vorschläge kommen daher, dass nun dem Wort Philosophie (Vers 8) mehr Bedeutung für die Identifikation der Probleme in Kolossä beigemessen wird. Die Liste zu verkürzen ist schwierig, weil so viele damalige Philosophien ähnliche Vorstellungen von der materiellen Welt und ihrer Beziehung zur Welt des Geistes beinhalteten. Paulus’ Worte in Kolosser 2 könnten daher vielen Gruppen gegolten haben, die in Kontakt mit der Urkirche und ihren Lehren kamen; für eine definitive wissenschaftliche Zuordnung sind sie zu allgemein.

Angesichts dieser Tatsache haben einige Forscher den Paulusbrief erneut unter die Lupe genommen, um spezifische Verbindungen mit den bekannten zeitgenössischen Philosophien zu finden. Der Schweizer Theologe Eduard Schweizer argumentierte in seinem Buch Der Brief an die Kolosser von 1979, dass Paulus die Gemeinde vor einem esoterischen Kult warnte, der auf den Philosophen und Mathematiker Pythagoras zurückging. Spätere Forschungen konzentrierten sich auf den mittleren Platonismus – eine Abwandlung des platonischen Denkens, die zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. populär war – und in jüngster Zeit auf den Kynismus (oder ehemals Zynismus), auf den im Folgenden noch eingegangen wird.

Darüber hinaus haben Bibelwissenschaftler die Kirche des 1. Jahrhunderts und die Sprache des Briefes näher untersucht. Das Ergebnis ist das Gegenteil der herkömmlichen Auslegung von Vers 16-17, wo Paulus über Feiertage, Neumonde und Sabbate schreibt. Entgegen der über Jahrhunderte geltenden Lehrmeinung sagen viele Übersetzer und Kommentatoren heute, dass die Kirche an dem wöchentlichen Sabbat, den jährlichen Feiertagen und anderen Aspekten des Gesetzes festhielt (s. „Vorgefasste Meinungen von der Kanzel“). So wurde z. B. der mit „Schuldbrief“ übersetzte Ausdruck (Vers 14), den die Mehrheit lange als das Gesetz des Alten Testaments verstand, in der rabbinischen Literatur gefunden – allerdings in Bezug auf die Vergebung der Sünden am Versöhnungsfest. Dies stellt Paulus’ Worte in den nachfolgenden Versen in einen vollkommen neuen Kontext und zeigt, dass die Kirche des 1. Jahrhunderts die Feiertage nicht aufgegeben hatte.

DIE SICHT DER KYNIKER 

Da die Ansicht, dass die Gemeinde in Kolossä von Vertretern der kynischen Denkrichtung verurteilt wurde, in den letzten Jahren eine gewisse Verbreitung erlangt hat, soll sie hier kurz erörtert werden. Einer der Begründer der kynischen Philosophie war Diogenes von Sinope (4. Jahrhundert v. Chr.). Diese Philosophie war nie stark verbreitet, erlebte jedoch im 1. Jahrhundert n. Chr. eine Renaissance; Schriftsteller jener Zeit berichten von kynischen Bettler-Philosophen und ihrer asketischen Lebensweise (ihrem „Hundeleben“; griech. kynismós von kyón: Hund).

Das Ziel der Kyniker waren persönliches Glück und heitere Gelassenheit; daher mieden sie alles, was dies verhindern konnte. Man sollte so einfach wie möglich leben und sich beim Essen und Trinken mit dem Nötigsten begnügen. Dies schränkte die Möglichkeit ein, wegen eines Mangels, z. B. an gutem Wein oder raffinierten Speisen, die heitere Gelassenheit zu verlieren. Zu ihren Idealen zählten Selbstgenügsamkeit, Freiheit und Gleichmut – wenn sie kein Interesse oder Bedürfnis hatten, sich auf andere zu verlassen, konnte nichts sie enttäuschen und dadurch ihre Heiterkeit beeinträchtigen. Der Kynismus war keine intellektuelle Disziplin wie so viele andere Philosophien; es ging um eine rigorose Disziplinierung des Körpers.

Die Opposition ist keine einzigartige, ,synkretistische Mischung‘ aus verschiedenen Standpunkten, sondern ein konsistenter, in sich schlüssiger Ausdruck der kynischen Philosophie.“

Troy W. Martin, By Philosophy and Empty Deceit: Colossians as Response to a Cynic Critique

Es mag die Kyniker durchaus angezogen haben, dass Paulus lehrte, den „alten Menschen“ abzulegen, über das materiell orientierte, unbekehrte Ich hinauszuwachsen und Früchte des Geistes hervorzubringen. Der Konflikt zwischen Fleisch und Geist leuchtete ihnen sicher ein und passte zu ihrem Ziel, sinnliche Genüsse jeder Art zu beschränken („Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren“). Für Kyniker ging Paulus allerdings nicht weit genug. Schon der Gedanke, dass Gläubige an Feiertagen Festmahle abhielten, muss sie abgestoßen haben.

Paulus’ Rat für die Gemeinde in Kolossä, sich nicht von anderen verurteilen zu lassen, passt zu einem weiteren Merkmal der Kyniker. Hellenistischen Autoren zufolge neigte der Kynismus unter allen Philosophien am meisten zum Verurteilen; seine Anhänger standen in dem Ruf, ständig andere zu kritisieren, und waren sicher mehr als bereit, der Gemeinde in Kolossä mitzuteilen, was sie falsch machte und wie man stattdessen leben sollte.

Eine weitere mögliche Verbindung zu den Kynikern findet sich im dritten Kapitel des Kolosserbriefes. Dort führt Paulus einige Gegensatzpaare auf: „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier“ (Kolosser 3, 11). Die Gegensätze Grieche und Jude, Beschnittener und Unbeschnittener, Sklave und Freier leuchten sofort ein. Paulus nennt Gruppen, die einander ausschließen, um zu zeigen, dass Jesus Christus Barrieren zwischen Menschen beseitigt. Aber „Nichtgrieche“ und „Skythe“?

Die Skythen waren nomadische Reiterstämme, die einige Jahrhunderte lang in Teilen Asiens verbreitet waren. Zur Zeit Christi war ihr Reich schon zerfallen, doch bei den Griechen war ihr Name noch immer ein Synonym für Nichtgriechen, d. h. Barbaren. Für die Griechen waren Nichtgriechen per Definition kulturell unterentwickelt, somit Barbaren, und die Skythen wurden unter den Letzten der Letzten gesehen. Die Kyniker dagegen sahen das nomadische Hirtenleben der Skythen als ideal; sie bezeichneten sich selbst als Skythen und ihre zerlumpten Obergewänder als „skythische Mäntel“. Doch ironischerweise waren sie auf ihre Demut stolz. Für sie waren die weltzugewandten Griechen die unterentwickelten Barbaren, wie Diogenes in einem seiner Briefe verkündete (Epistel 28.8). In diesem Licht gesehen führt Paulus mit Barbaren und Skythen durchaus ein weiteres Gegensatzpaar an, und es erklärt auch, was er mit „falscher Demut“ (Kolosser 2, 18) meint.

Es gibt noch weitere Parallelen, die auf eine Verbindung zwischen den Kynikern und den Kolossern hindeuten, doch kann aus Platzgründen hier nicht näher darauf eingegangen werden. Aufgrund einer sorgfältigen Sichtung der inzwischen verfügbaren Belege scheint es allerdings vollkommen plausibel, dass die Verfolgung der Gemeinde in Kolossä von den Kynikern ausging. Trotzdem halten viele Christen an der herkömmlichen, wenn auch unhaltbaren Auslegung fest, weil sie in ihr bevorzugtes theologisches Schema passt. Mit einer solchen Denkweise dürfte das Verharren im Irrtum so gut wie gesichert sein.