Polykrates - Einheit oder Wahrheit
Kurzbiografie über den Gegner des Bischofs von Rom in der Frage, ob das biblische Passa oder das heidnische Ostern gefeiert werden sollte. Ein wichtiges Thema, das in Kirchenkreisen weitgehend vergessen wurde.
Dass die Urkirche in Jerusalem bestrebt war, sich an die Lehren Jesu Christi zu halten, mag selbstverständlich scheinen. Ebenso selbstverständlich ist es vielleicht, dass die ursprünglichen Apostel als maßgebliche Quelle dieser Lehren galten. Dabei blieb es allerdings nicht sehr lange, nachdem die Kirche über ihre frühesten geografischen Grenzen hinauswuchs.
Als Jerusalem im Jahr 70 an die Römer fiel, verlagerte sich der Mittelpunkt der Kirche nach Kleinasien. Hier hatte nicht nur der Apostel Paulus gewirkt, sondern hier hatten auch seine Assistenten den Dienst für die Nachfolger Jesu fortgeführt. Der Apostel Johannes soll sich in Ephesus niedergelassen haben - der wichtigsten römischen Stadt der Region -, und die von ihm geschriebene Offenbarung enthält Briefe an sieben der Gemeinden Kleinasiens.
Hier finden wir auch gegen Ende des 2. Jahrhunderts den Kirchenführer Polykrates. Er war der Nachfolger des Johannes-Schülers Polykarp, und seine Familie hatte der Urkirche angehört. Sie hatte die apostolischen Lehren seit dem 1. Jahrhundert treu bewahrt. Doch inzwischen hatten kirchliche Gruppierungen in anderen Teilen der Welt Lehren angenommen, die mit der apostolischen Lehre unvereinbar waren.
Um 190 geriet Polykrates von Seiten des römischen Bischofs Viktor unter erheblichen Druck, in Bezug auf das neutestamentliche Passafest entgegen seiner Überzeugung neue Praktiken zu akzeptieren. Diese neuen Ideen sollten später die Basis der Osterfeierlichkeiten werden. Polykrates musste sich also entscheiden: bei der Wahrheit, die seit dem Apostel Johannes weitergegeben worden war, zu bleiben oder Viktors unbiblische Lehre zu akzeptieren?
Eusebius beschreibt in seiner Kirchengeschichte (5.24), wie die Kontroverse ausging: „An der Spitze der Bischöfe Asiens, welche behaupteten, man müsse an dem ihnen von alters her überlieferten Brauche festhalten, stand Polykrates.“ Eusebius zitiert Polykrates mit den Worten: „Unverfälscht begehen wir den Tag; wir tun nichts dazu und nichts hinweg.“ Dann nannte Polykrates Philippus, Johannes und Polykarp unter den gläubigen Aposteln und Vorfahren: „Diese alle haben gemäß dem Evangelium das Passa am 14. Tage gefeiert; sie sind keine eigenen Wege gegangen, sondern der vom Glauben gewiesenen Richtung gefolgt. Auch ich, Polykrates, der Geringste unter euch allen, halte mich an die Überlieferung meiner Verwandten, von denen einige auch meine Vorgänger waren. Sieben meiner Verwandten waren nämlich Bischöfe, und ich bin der achte. Und stets haben meine Verwandten den Tag gefeiert, an welchem das Volk den Sauerteig entfernte. Ich nun, Brüder, der 65 Jahre im Herrn zählt und mit den Brüdern der ganzen Welt verkehrt hat und die ganze Heilige Schrift gelesen hat, ich lasse mich durch Drohungen nicht in Schrecken setzen.“
Auf diese unverblümte und selbstsichere Aussage hin versuchte Viktor, alle Gemeinden in Kleinasien zu exkommunizieren. Mehrere andere Kirchenführer waren jedoch entsetzt über diese Strenge und Härte gegen Menschen, deren einziges Verbrechen darin bestand, den Glaubensüberzeugungen und Praktiken der Urkirche treu zu bleiben. Eusebius schreibt: „Doch nicht allen Bischöfen gefiel dies Vorgehen Viktors. Sie stellten an ihn geradezu die Gegenforderung, für Frieden, Einigung und Liebe einzutreten. Noch sind ihre Briefe erhalten, in denen sie Viktor ziemlich scharf angreifen. Unter anderen richtete auch Irenäus . . . ein Schreiben an ihn . . ., er solle nicht ganze Kirchen Gottes, die an alten, überlieferten Bräuchen festhalten, ausschließen.“
Eine Generation zuvor hatte es wegen des gleichen Themas eine Kontroverse zwischen Polykarp und dem damaligen römischen Bischof Anicetus gegeben, die einander als gleichrangig ansahen. Als sie sich über dieses Thema nicht einigen konnten, hielt jeder an seiner Auffassung fest, doch sie blieben sich freundlich gewogen. In diesem Fall war es jedoch anders: Viktors Widerstand blieb fest.
„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Zwar ist nichts darüber überliefert, ob Polykrates schließlich als Märtyrer starb, doch ist klar, dass er Viktors Einschüchterungsversuchen und Drohungen zum Trotz furchtlos an seinen Überzeugungen festhielt. Offenbar war er ein demütiger Mann, der Menschen in Amt und Würden respektierte, aber die Wahrung der Einheit der Kirche nicht als guten Grund für Kompromisse ansah, wenn es um Fragen des Glaubens und der Praxis ging, die ihm durch die Apostel von Jesus Christus überliefert worden waren. Seine Antwort auf Viktors Drohungen ist eine Zusammenfassung seines Vermächtnisses und ein Echo der Worte des Apostels in Apostelgeschichte 5, Vers 29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“