Martin Luther: Ein Prophet Gottes?
Martin Luther - Prophet Gottes oder Theologe in eigener Sache? Diese Frage beschäftigt Forscher seit 500 Jahren. Zwei kürzlich erschienene Bücher untersuchen die Entwicklung von Luthers Denken aus unterschiedlichen Perspektiven und vermitteln Erkenntnisse über einen Mann, dessen Lehren unbestreitbar eine tief greifende Wirkung auf die Welt gehabt haben.
Der bekannte Reformationsforscher Richard Marius, Emeritus der Universität Harvard bis zu seinem Tod gegen Ende 1999, merkt an, beim Schreiben seines Buches Martin Luther: The Christian Between God and Death habe er versucht, „Luther im breiteren Kontext einer ganzen Kultur zu sehen, die melancholische Gedichte, widerwärtige Ikonen des Todes und einen Säkularismus hervorbrachte, der bald laut, bald unendlich traurig ist, dessen Geist aber sowohl gegen die katholische als auch gegen die protestantische Frömmigkeit stand“.
Seine Haltung als Autor beschreibt Marius als „im Prinzip nicht religiös“. Er teile zwar Luthers Überzeugungen nicht, habe aber versucht, „gleichzeitig mit Sympathie und kritisch über ihn zu schreiben, ohne die Beweise zu verdrehen und ohne gegen oder für eine religiöse Konfession Partei zu ergreifen“.
Marius war ein erfahrener Schriftsteller; er schrieb historische Romane und mehrere Bücher über Kirchengeschichte. Nach seinem ersten theologischen Examen am Southern Baptist Theological Seminary in Louisville, Kentucky, erwarb er den Magistertitel an der Universität Yale und promovierte dort in Kirchengeschichte.
Ganz anders als er ist der verstorbene Bernhard Lohse, Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Hamburg, in Martin Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang vorgegangen. Wie Marius wollte auch er Luther in einem neuen Licht betrachten. Er bemerkt, die meisten Theologen gingen systematisch an Luthers Theologie heran - sie arrangierten und untersuchten seine Lehren methodisch nach einem zuvor festgelegten Verfahren, wobei sie oft den geschichtlichen Hintergrund außer Acht ließen. Andererseits betrachteten einige Autoren Luthers Schriften allein in ihrem historischen Kontext und versuchten gar nicht erst, sie zu systematisieren.
Angesichts der Erkenntnis, dass beide Methoden ihre Stärken und Schwächen haben, versucht Lohse, mit einer Synthese der beiden ein vollständigeres Bild der Theologie Luthers zu schaffen. Er beschreibt und analysiert die Entwicklung dieser Theologie und wertet sie dann im Kontext der Krisen und Kontroversen aus, die Luther sein Leben lang zu bestehen hatte.
UMFELD
Unsere moderne Auffassung der Gedanken Luthers reflektiert verschiedene Versuche, den Geist des frühen 16. Jahrhunderts zu begreifen. Richard Marius leitet sein Buch mit einer Darstellung des Umfelds ein, in dem sich das Denken des jungen Luther entwickelte.
Luthers Europa, schreibt Marius, war eine autoritäre Welt, die gerade aus dem „finsteren Mittelalter“ heraustrat - eine Welt, die zwischen intellektueller und theologischer Unruhe und schrecklichen Katastrophen zerrissen war. „Mehrere Pestepidemien waren wohl nur der intensivste unter vielen Schrecken in einer Zeit, die überall von Veränderung und Ungewissheit geprägt war“, bemerkt er auf S. 10. Hinzu kam der moralische Verfall der römisch-katholischen Kirche: „Proteste gegen die Übel der Kirche waren an der Tagesordnung im christlichen Europa, als Luther zur Welt kam“ (S. 7).
Die traditionelle Lehrmeinung ist, dass der Zustand der Kirche der Theologie Luthers den Weg ebnete. Marius zeigt jedoch zusätzliche Einzelheiten über Luther auf, die ebenfalls dazu beigetragen haben könnten. Immer wieder weist Marius in seinem Buch auf Luthers zwanghafte Todesfurcht hin. Nicht die natürliche Furcht, die viele empfinden, sondern eine Furcht, die aus religiösen Vorstellungen entstanden war. Er hatte Angst vor dem, was der Seele widerfahren würde, wenn sie vor dem Angesicht Gottes nicht bestünde.
Luther hatte Angst vor dem, was der Seele widerfahren würde, wenn sie vor dem Angesicht Gottes nicht bestünde.
Die Wurzel dieser Angst lag in den vielfältigen Entwicklungen, die sich im Europa des späten 15. Jahrhunderts vollzogen. Wie Marius es ausdrückt: „Luthers Aberglaube und Ängste waren zum Teil aus seiner Zeit und seiner Umgebung entstanden“ (S. 27).
Der Erfolg des Ablasshandels ist ein Zeugnis dafür, welche Ängste die Lehren der Kirche in den Menschen schürte: Die Kirche hatte reuigen Sündern zwar schon die Vergebung zugesichert, lehrte aber, sie würden trotzdem eine gewisse Bestrafung erleiden müssen. Nach einer Vorstellung, die die römisch-katholische Kirche eingeführt hatte, würde diese Bestrafung im Fegefeuer stattfinden - einem Zustand zwischen diesem Leben und der Ewigkeit. Um die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen, konnte man als Gegenleistung für eine gute Tat (zum Beispiel eine Geldspende an die Kirche) einen Ablass, d. h. einen Sündenerlass kaufen. Wie Marius anmerkt, „erlebte das 14. und 15. Jahrhundert eine Zunahme und Trivialisierung des Ablasswesens. Vielleicht wurde es den Menschen durch die Heimsuchung der wiederkehrenden großen Plagen wichtiger, ihre Seele für den plötzlichen Tod bereit zu machen, der auch die scheinbar Jungen und Gesunden ereilen konnte“ (S. 133).
Zu dieser theologisch motivierten Angst, schreibt Marius, kamen Luthers Angst vor Hexerei (als Höhepunkt eines Kampfes zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis), seine Neigung zu Niedergeschlagenheit und Melancholie, eine harte Kindheit, ein nervöses Temperament und ein brillanter Intellekt hinzu - all dies prägte den Menschen Luther. Man gieße diese Mixtur in den intellektuellen Schmelztiegel von Scholastik, Humanismus, Nominalismus und Rationalismus (vgl. „Einflussreiche Gedanken“), und man hat die Grundlage für die Entwicklung von Ideen, die die bestehende Ordnung bis in die Grundfesten erschüttern musste.
TOD UND LEBEN
Marius zeigt, dass Luthers Todesfurcht mitbestimmend dafür war, welche Richtung sein Leben nahm. Als er in einem Dorf bei Erfurt von einem Gewitter überrascht wurde, gelobte er vor lauter Entsetzen: „Hilf, heilige Anna, so will ich ein Mönch werden!“ Was er bis dahin gelernt hatte, ließ ihn das Gewitter als eine Art göttliche Aufforderung sehen, und seiner Auffassung nach hatte er sein Gelübde vor Gott selbst abgelegt. Trotz der Einwände seines Vaters fand Luther, er müsse dies Versprechen halten, und so trat er in das Ordensleben ein, statt den Traum seines Vaters zu erfüllen und Jura zu studieren.
Marius zeigt, dass Luthers Todesfurcht mitbestimmend dafür war, welche Richtung sein Leben nahm.
Ob Luther sich wirklich zum Ordensleben berufen fühlte oder ob er seinen Schritt bedauerte - er widmete sich seiner neuen Aufgabe mit Leib und Seele. „Aus Luthers späteren Bemerkungen über sich selbst in dieser Zeit“, schreibt Marius, „ergibt sich das Bild eines eifrigen jungen Mönchs, eingebunden in die erbarmungslosen Routinen des Klosters, die er gewissenhaft einhielt in dem Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er sein Bestes tat, um Gott wohlgefällig zu sein“ (S. 59).
Luthers Frömmigkeit als Mönch ist ein Zeichen für die Tiefe seiner römisch-katholischen Wurzeln; trotzdem wollte er frei sein von den Ängsten und Schuldgefühlen, die aus diesen Wurzeln kamen. „Wir haben keinen Anlass zu glauben, Luther sei nicht depressiv gewesen“, meint Marius. Das größere Problem ist die Ursache oder der Gegenstand seiner Depression. Das Zeugnis seiner eigenen Worte war später, dass er von einer akuten und extremen Todesfurcht heimgesucht wurde, die er im Sinn des paulinischen Gefühls von Sünde und Sündenlohn deutete, als Todgeweihtheit des Leibes und der Seele ohne das wunderbare Eingreifen Gottes“ (S. 71).
Marius zufolge muss dieses innere Ringen bei einer nervösen Persönlichkeit zu sehr viel Zorn geführt haben, der wiederum seine Reaktion auf Ansichten motiviert haben dürfte, die seiner eigenen zuwiderliefen. Seine Sehnsucht nach innerem Frieden war stark, und während Luthers Theologie sich entwickelte, begann er bestimmte Texte zu hinterfragen, die er nicht mit der kirchlichen Lehre vereinbaren konnte. „Ich tobte in einem wütenden und stürmischen Gewissen“, schrieb Luther; „als ein grob fordernder Mensch hieb ich auf diese Stelle des Paulus, voll brennenden Wissensdurstes, was Paulus wollen könnte“ (S. 193). Man hatte Luther gelehrt, Gottes Gerechtigkeit mit der Bestrafung der Ungerechten gleichzusetzen, und für ihn bedeutete dies Tod, da die Menschheit in Sünde gefallen war. Deshalb konnte er die Gerechtigkeit Gottes und die Gerechtigkeit des Christen in seinem Denken nicht vereinbaren.
Marius schreibt, Luther „meditierte bei Tag und bei Nacht über den unerträglichen Text“ und kam endlich zu dem Schluss, dass Gottes Rechtschaffenheit seine Gerechtigkeit (iustitia) sei, die Gott den Christen gab, nicht etwas, das er mit ihnen tat. Er schloss daraus, die Zehn Gebote dienten Gott nicht dazu, jemanden zu verurteilen, sondern als scharfer Kontrast zu dem günstigen Urteil, das er als Antwort auf Glauben und Unterordnung schenke. So sei Gottes Gerechtigkeit passiv für den Menschen, der sie empfange; es gebe nichts, das dieser Mensch tun könnte, um die göttliche Gnade zu verdienen.
Doch wie ein Vergleich mit der Schrift zeigt, sagt die Bibel zwar klar aus, dass die göttliche Gnade ein Geschenk Gottes ist, aber auch, dass Gerechtigkeit im Gesetz Gottes gründet, das in den Zehn Geboten zusammengefasst ist: „Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, daß wir alle diese Gebote tun und halten vor dem HERRN, unserm Gott, wie er uns geboten hat“ (5. Mose 6, 25). Christus bezog sich darauf, als er verkündete: „Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“ (Mt. 5, 17). Luther entschied sich für den einen Gedanken - Gnade und Barmherzigkeit als unverdientes Geschenk - auf Kosten des anderen, der Pflicht, die Gebote zu befolgen.
Luther entschied sich für den einen Gedanken - Gnade und Barmherzigkeit als unverdientes Geschenk - auf Kosten des anderen, der Pflicht, die Gebote zu befolgen.
GLAUBE ODER WERKE
Luthers Schlüsse führten ihn zu einem wichtigen Wendepunkt in seinem Leben. Denn nun begann sich seine Meinung über die Kirche zu verschlechtern, und dies führte letztlich zu seinem berühmten Ablassstreit, bei dem er im Jahr 1517 seine 95 Thesen an das Nordportal der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte.
Luther gelangte zu der Auffassung, der Christ solle sein Hauptaugenmerk nicht auf den Versuch richten, Gott durch gute Werke wohlgefällig zu sein (wie die Kirche zum Beispiel im Zusammenhang mit Ablässen und mit dem Ordensleben lehrte), sondern auf den Gedanken, dass Gottes Gerechtigkeit allein durch den Glauben (sola fide) in uns sei. Wie Marius ausführt: „Luther erklärte, da die Gerechten aus dem Glauben leben sollten, sei alle Gerechtigkeit im Glauben, und Glaube allein erfülle alle Gebote Gottes und mache alle Werke gerecht. . . . Die rituellen guten Werke, die die römische Kirche förderte, . . . seien an sich nicht schlecht, aber sie machten die Frömmigkeit zunichte, wenn sie zu Vorschriften wurden“ (S. 232). Dies brachte Luther natürlich dazu, die Autorität des Papstes zunehmend in Frage zu stellen und folglich die römisch-katholische Kirche abzulehnen, die auf dieser Autorität aufgebaut war.
Abschließend stellt Marius Luther als einen Mann dar, der durch die Manipulation der Religion inneren Frieden fand. „Für Luther“, schreibt er, „war Religion in erster Linie das Mittel, den Tod zu überwinden, eine Sammlung wahrer Lehren, die der Christ glauben musste, um den Tod zu besiegen.“ Marius glaubt: „Luthers Temperament war seine Tragödie“ (S. 482, 485).
EIN ANDERER BLICKWINKEL
Lohses Buch Luthers Theologie [abgekürzter Titel] neigt eher dazu, den Menschen Luther beiseite zu lassen und sich - wie der Titel ankündigt - mehr auf seine Theologie zu konzentrieren. Lohse zufolge entwickelte sich diese Theologie, während Luther disputierte und nachdachte, ohne dass er ein bestimmtes Ergebnis angestrebt hätte. Lohse stellt die einzelnen religiösen und intellektuellen Faktoren des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts dar, die Luther prägten.
Lohse betrachtet Luthers Denken aus einem anderen Blickwinkel als Marius, doch wenn er über den Menschen Luther schreibt, stimmt er weitgehend mit Marius überein. In einem Kapitel über Luthers persönliche Entwicklung beschreibt Lohse einen ähnlichen Eindruck von Luthers innerem Konflikt; dabei ist seine Sicht allerdings positiver. Er bemerkt: „... Luther hat in der Zeit vor seiner Entscheidung für das Mönchtum schwere Anfechtungen durchgemacht, die ihn auch später noch im Kloster und in gewisser Weise zeitlebens heimgesucht haben . . . sie hatten jedoch vornehmlich ihre Ursache in der bangen Frage, wie er im Jüngsten Gericht vor Gott bestehen könne“ (S. 46).
Ab nun wird Lohse ganz Theologe und zeichnet die Entwicklung des lutherischen Denkens systematisch nach. Er glaubt, dass Luther zunächst kein klares Konzept von dem hatte, was später als Theologie der Reformation bekannt wurde.
Lohse zufolge nahmen Sünde, Gnade und Glaube viel Raum in Luthers Denken ein. In den frühen Phasen seiner theologischen Entwicklung wurde Sünde eine Variation von „Erbsünde“ (vgl. „Einflussreiche Gedanken“), wie es der römisch-katholischen Theologie entspricht. Luthers Auslegung des Psalms 51 in einer Vorlesungsreihe über das Buch der Psalmen illustriert, in welche Richtung seine Gedanken über die Sünde gingen. Er schrieb: „Alle Menschen sind in Sünden vor Gott und sündigen, d.h., sie sind wahrhaft Sünder“ (S. 64).
Lohse kommentiert: „Luther identifiziert diese wahre, verborgene Sünde, von der in Psalm 51 gesprochen wird, mit der Ursünde“ (S. 64). Hieraus entwickelte sich seine Gnadenlehre: „... die Aussagen über Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde oder über die Hinnahme des göttlichen Gerichts bestimmen die Gedanken über die Gnade“ (S. 66). Da wir also, so Luther, in Sünde geboren sind, ist Gottes Gerechtigkeit umso größer, je mehr wir unsere Sündhaftigkeit anerkennen.
Für Luther war Gnade als „rechtfertigende Gnade“ zu verstehen. Er schrieb: „Je mehr wir uns selbst verurteilen und verwünschen und verfluchen, desto reicher fließt die Gnade Gottes in uns (influit)“ (S. 66). Hieraus erwuchs die Vorstellung, Glauben zu haben bedeute, das Urteil Gottes anzunehmen, um an der Gerechtigkeit Gottes teilzuhaben. All dies führte dazu, dass man sich von dem Gedanken entfernte, es könne etwas geben, das ein Mensch tatsächlich tun muss, um vor Gott gerecht zu sein.
DU SOLLST NICHT VERSUCHEN ZU GEHORCHEN
Je mehr Luther schrieb und sprach, umso mehr entwickelte sich sein Denken über diese Themen. Seine Sündenlehre begann radikal von der kirchlichen Lehrmeinung abzuweichen. Er lehnte die Vorstellung ab, der natürliche, aber sündige Zustand eines Menschen könne durch Gnade gebessert werden, und wetterte gegen die Ansicht, man könne mit irgendeiner natürlichen, menschlichen Kraft die Gebote Gottes halten.
„Vor allem aber hat Luther auch inhaltlich das Wesen der Sünde näher bestimmt und dabei die scholastischen Distinktionen hinter sich gelassen“, schreibt Lohse. „Sünde ist ihrem Wesen nach der Versuch, die eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten“ (S. 83).
In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, wie Luther das Gesetz Gottes versteht. „Das Gesetz Gottes“, paraphrasiert Lohse, „das in sich als heilsame Lehre für das Leben gegeben ist, vermag doch nicht den Menschen zur Gerechtigkeit zu bringen, sondern steht hier im Wege“ (S. 122-123). Luther kam zu dem Schluss, der sündige Mensch könne sich nicht bessern, weder durch Gnade noch durch Gehorsam. So lieferte er künftigen Generationen von Theologen unwissentlich eine Grundlage, auf der sie ihre Forderung nach der vollständigen Abschaffung des Gesetzes Gottes stützen konnten - eine Forderung, die weder aus der Bibel ableitbar ist, noch von Luther selbst erhoben wurde.
Am Schluss seiner Darstellung der theologischen Entwicklung Luthers macht Lohse die Basis der Reformationstheologie deutlich: „Hatte Luther einst gegen die römische Position vor allem das Evangelium als die gnädige Zuwendung Gottes zu den Menschen hervorgehoben, so betonte er jetzt gegen die Antinomer [Gegner des Gesetzes] die bleibende Bedeutung des Gesetzes . . . Für die Rechtfertigung sei das Gesetz zwar nicht notwendig, sondern unnütz und unfähig; aber daraus folge keineswegs, dass das Gesetz zu verwerfen sei“ (S. 200).
Mit anderen Worten: Luther deutete das Gesetz neu in dem Sinn, dass es einfach dazu dient, eine Erkenntnis der Sünde zu bewirken; und sobald die Sünde anerkannt ist, kommt die Gnade zum Tragen. So macht Christus, der durch den Glauben im Menschen lebt, das Gesetz irrelevant. Lohse merkt an: „... hatte Augustinus gesagt: ,Das Gesetz ist also gegeben, auf dass die Gnade gesucht werde; die Gnade ist gegeben, auf dass das Gesetz erfüllt werde.'“ Dann zitiert Lohse Luther: „Das Gesetz ist das Wort Moses an uns, das Evangelium jedoch das Wort Gottes in uns“ (S. 285). Aus Luthers Schriften ist klar ersichtlich, dass er glaubte, ein Christ sei nicht verpflichtet, das Gesetz zu halten, sobald es die Sünde identifiziere.
Leider achtete er hierbei nicht auf Ermahnungen wie die des Apostels Johannes: „Und daran merken wir, daß wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht“ (1. Johannes 2, 3-4). Auch der Apostel Jakobus ermahnt seine Leser: „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst“ (Jakobus 1, 22). Er fährt fort: „Was hilft's, liebe Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann denn der Glaube ihn selig machen? . . . So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber. . . . Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken“ (2, 14.17-18).
ZU WEIT ODER NICHT WEIT GENUG?
Marius vermittelt uns das melancholische Bild eines Mannes, der auf eine reformbedürftige Institution reagierte und dabei zu weit ging. Seiner Ansicht nach hätte Luther von innen arbeiten und dadurch „eine bleibende Gemeinschaft“ bewahren sollen.
Hierin liegt allerdings eine Ironie: Luther setzte sich mit einer Kirche auseinander, die er als korrupt empfand, und veränderte ihre Theologie tatsächlich radikal, um sie von Irrtümern zu befreien, die sie schon seit dem 4. Jahrhundert plagten. Dadurch reinigte er einerseits die neue Kirche von einigen Irrtümern, doch ließ er ihr das Erbe einer dreihundertjährigen Ansammlung dubioser Lehren, die sich schon im 4. Jahrhundert breit gemacht hatten. Am Ende löste er sich deshalb doch nicht vollkommen von dem Glaubenssystem, das die römisch-katholische Kirche kultiviert hatte.
Darüber hinaus bezichtigt Marius Luther und seine Anhänger, Unruhe und Instabilität ausgelöst zu haben. „Luthers kompromisslose Rhetorik“, kommentiert er, „riecht nach Traurigkeit, Sinnlosigkeit und dem Blutvergießen, das in Strömen des Schreckens über ganz Europa und die Amerikas kommen sollte“ (S. 468). Offenbar macht Marius Luther für all diejenigen verantwortlich, die unnötig im Namen der Religion gestorben sind, sei es als Märtyrer oder in Religionskriegen. Dass Luther der Autorität der Kirche in Rom getrotzt habe, mache ihn zu einem negativen Vorbild für „Eiferer aller Art“.
Lohse sieht Luthers Gedanken hingegen mehr als Basis für theologische Freiheit. „Die Stellung zu Tod und Gericht ist darum für Luther sowohl in seiner Biographie als auch in seiner Theologie gleichsam der Prüfstein für die Wahrheit und Echtheit aller Aussagen. Eine Theologie, welche diesen Horizont der Endzeit nicht in ihre Reflexionen einbezieht, verfehlt sowohl die Wahrheit des Evangeliums als auch die Wirklichkeit der menschlichen Existenz“ (S. 346).
Gewiss provozierte Luther eine Spannung zwischen jenen, die daran festhielten, dass die Lehre durch die Autorität des Papstes und die kirchlichen Tradition bestimmt wurde, und den „freieren Geistern“, die den Protestantismus als etwas sahen, das aus diesem System herauswuchs und sich aus der Knechtschaft überholter Vorstellungen herauswand.
Die protestantische Welt von heute ist Luther in unterschiedlichen Graden gefolgt und hat sich von Gottes Gesetz ebenso befreit wie von jeder Autorität, die versuchen könnte, dogmatische Vorstellungen durchzusetzen, ob sie nun Sakramente oder Gebote betreffen. Die römisch-katholische Kirche hingegen geht kompromisslos weiter den Weg päpstlicher Autorität und traditioneller Dogmen.
EINE PERSÖNLICHE ANGELEGENHEIT
Obwohl Marius und Lohse Luther aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, kommen sie zu bemerkenswert ähnlichen Schlüssen. Beide zeichnen das Bild eines Mannes, der die Theologie aus einer persönlichen Perspektive heraus formte, um seine inneren Konflikte zu lösen. Im Lauf dieses Prozesses gewann Luthers Herausforderung der päpstlichen Autorität ein Format, das vielleicht sogar ihn selbst überraschte. Die Korruptheit der kirchlichen Hierarchie war Wasser auf seine Mühle und trug dazu bei, die sehr persönliche Natur seiner theologischen Entwicklung zu verdecken.
Im Nachwort seines Buches schreibt Marius zusammenfassend: Luther „wollte seinen eigenen Vorstellungen von einer Religion des Herzens folgen, damit er gegen die Falschheit und Vergeblichkeit einer religiösen Praxis protestieren konnte, die kaum mehr als Magie war.“
Weder Marius noch Lohse versuchen, Luthers theologische Schlüsse im Licht der Bibel selbst zu analysieren. Doch ein gründliches Studium der Schrift - von der nur einige Passagen in dieser Besprechung genannt wurden - zeigt, dass Luther sowohl Falsches als auch Wahres gelehrt hat. Darum war er kein Prophet Gottes. Er mag recht daran getan haben, die Korruptheit der Kirche anzuprangern, doch seine Behauptung, wahre Christen seien nicht verpflichtet, das Gesetz Gottes zu halten - auch wenn sie ihm geholfen hat, seine eigenen Ängste zu überwinden -, ist eine sehr bedauerliche Fehldeutung der Schrift, deren Studium er sich ein Leben lang widmete.