Einflussreiche Gedanken

Als junger Mann lernte Martin Luther die damals vorherrschenden philosophischen Gedanken kennen.

In Martin Luther: The Christian Between God and Death merkt Richard Marius an: „Die intellektuelle Unruhe des 16. Jahrhunderts ist nicht nur eine Folge der Auseinandersetzungen über die wahre Natur religiöser Überzeugungen und Praktiken; sie ist eine Suche nach Sinn und nach Gewissheit über religiöse Überzeugungen, die immer ungewisser wurden.“ 

Bernhard Lohse schreibt in Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang: „Als Luther Mönch wurde und bald darauf Theologie studierte, sah er sich nicht nur einer vielschichtigen kirchlichen Situation gegenüber, sondern war auch in philosophisch-theologischer Hinsicht keineswegs lediglich dem Einfluss einer einzigen Richtung ausgesetzt“ (S. 30).

Im Folgenden werden einige philosophische Richtungen und Gedanken umrissen, die Luthers theologische Entwicklung nach Ansicht der Autoren beeinflusst haben.

 

Scholastik 

Mit der Aufnahme aristotelischer Schriften in den Lehrplan spätmittelalterlicher Universitäten wurde die aristotelische Logik auf das Studium der Theologie angewandt. Dies führte zu dem Versuch, jede kirchliche Lehre logisch so herzuleiten, dass niemand die Lehren der Kirche widerlegen konnte. Diese akademische Methode hieß Scholastik und umfasste die Anwendung des Kommentars und der Disputation. Zur Zeit Luthers hatte sich bereits erwiesen, dass diese Methode nicht geeignet war, die Lehren der Kirche zu stützen, und die Kirche war angesichts zunehmender Veränderungen in der Gesellschaft noch angreifbarer geworden.

Humanismus 

Der Humanismus war ein Versuch, außerhalb der kirchlichen Lehren eine Basis für Moral und Ethik in der Gesellschaft zu finden. Deshalb orientierten sich die Humanisten an Persönlichkeiten der griechischen und römischen Antike als Vorbildern für den moralischen Bürger. Für Humanisten waren Vernunft, Skeptizismus und die wissenschaftlichen Methoden die einzig geeigneten Hilfsmittel zur Wahrheitsfindung. Dadurch untergruben die Humanisten die Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft. Zwar beschränkte sich ihr Einfluss auf die Gebildeten, doch bei dieser Gruppe war er von großer Tragweite, denn der Humanismus wurde als praktikable Alternative zur Scholastik gesehen. Die Humanisten unterstützten Luther zunächst gegenüber der Kirche, aber Luther wusste, dass ihre Unterstützung der Kirche letztlich jede Autorität über die Moral der Gesellschaft absprechen würde.

Nominalismus  

Von lat. nominalis, „den Namen betreffend, zum Namen gehörend“. Dem Nominalismus zufolge sind abstrakte Begriffe nur Namen innerhalb des Denkens und haben keine konkrete Identität. Sünde ist zum Beispiel ein Begriff, der in sich selbst keine Realität hat und nur deshalb eine Bedeutung bekommt, weil wir ihm einen Namen geben. Dies war die vorherrschende Philosophie an der Universität Erfurt, während Luther dort studierte.

Rationalismus

Zuvor galten Offenbarung und Autorität als Hauptquellen der Wahrheit. Diese Überzeugung wurde allmählich von der rationalistischen Philosophie abgelöst, die besagte, dass sich die Wahrheit über die natürliche Welt mit Vernunft und Logik beweisen lasse.

Erbsünde

Diese von Augustinus formulierte Lehre der römisch-katholischen Kirche besagt, dass alle Menschen Gott von Geburt an entfremdet sind, weil sie von den ersten Menschen, Adam und Eva, sowohl eine angeborene Neigung zur Sünde als auch eine angeborene Schuld ererbt haben. Nur Jesus und seine Mutter Maria gelten als frei von der Erbsünde.