Platon und seine Marionetten
Augustinus übernahm platonisches Gedankengut, um christliche Theologie zu erklären. Doch was ist der Kern des platonischen Denkens?
Der griechische Philosoph Platon, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte, glaubte, dass die Sinne allein unsere Welt nicht erklären könnten. Er misstraute ihnen. Sie gehörten dem Reich des Materiellen, nicht des Geistigen an. Seine dualistische Weltsicht führte ihn zu der Aussage, die Wahrheit des menschlichen Daseins sei nur durch die Kraft des Denkens, durch Schlussfolgerung und Abstraktion zu erfassen. Was man mit den fünf Sinnen sah, hörte oder spürte, war eher irreführend als aufschlussreich.
Am besten erschließt sich Platons Weltbild in der berühmtesten Passage seines bekanntesten Werks Der Staat. Im „Höhlengleichnis“ führen Platons Mentor und Lehrer Sokrates und sein Großonkel Glaukon einen fiktiven Dialog. Sokrates vergleicht die Welt mit einer Höhle, deren Bewohner so gefesselt sind, dass sie nur eine Wand direkt vor sich sehen können. Licht kommt von einem Feuer oberhalb von ihnen und von der Sonne, die durch den Höhleneingang scheint. Zwischen dem Feuer und den Gefesselten verläuft ein Weg. Vor diesem Weg gibt es eine halbhohe Mauer, hinter der Menschen Gegenstände und Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Stein und Holz vorbeitragen. Durch das Licht des Feuers und des Sonnenlichts werden die Schatten dieser Dinge an die Höhlenwand geworfen. Die Gefesselten können sich nicht umdrehen, sie sehen immer nur die Schatten. Die Höhlenwand wirft das Echo der Laute von draußen zurück, so dass es sich anhört, als kämen sie von den Schatten an der Wand. So kommen die Gefesselten zu der Überzeugung, dass die Schatten die Realität sind. Natürlich ist das falsch. Auch die Sprache, in der sie über die falsch wahrgenommene Realität sprechen, ist mangelhaft.
Doch einige von ihnen kommen schließlich durch Denken, Schlussfolgerung und Abstraktion zu der Erkenntnis, dass sie die wahre Realität (die Gegenstände hinter der Mauer, die Lichtquellen) nicht sehen und dass es außerhalb der Höhle noch viel mehr gibt. Diese Erleuchteten werden die Philosophen, die nach Platons Ansicht am besten geeignet waren, die Massen zu führen.
Augustinus wandte Platons Philosophie - in der später von seinen Nachfolgern abgewandelten Form des Neoplatonismus - für seine Auslegung der Bibel an. Er kam zu der Überzeugung, dass die wahre Bedeutung der Bibel sich nicht durch einfaches Lesen erschließe; man müsse die Texte als Allegorien verstehen und den eigentlichen Sinn hinter der Allegorie durch Abstraktion erfassen. Weiter kam er zu der Überzeugung, dass nur die wenigen, die in dieser Art des Denkens gut ausgebildet waren, die Schrift richtig auslegen könnten. Solche Menschen seien am besten qualifiziert, Autorität in der Kirche zu haben und die Lehre zu bestimmen und zu bewahren.
Die neoplatonische Denkweise des Augustinus führte dazu, dass die römische Kirche Laien das Lesen der Bibel verbot und auch anderes Wissen unterdrückte, das in der Antike gesammelt worden war. So trug die Kirche wesentlich dazu bei, das Abendland in das finstere Mittelalter zu stoßen.