Die Schatten des Augustinus
Der Einfluss des Augustinus auf die christliche Kirche und das Abendland insgesamt ist bei Theologen und Gelehrten generell anerkannt. Im Nachhinein betrachtet scheinen seine philosophischen Lehren gar nicht so sehr erhellend.
Sowohl die allgemeine Christenheit als auch diejenigen, die Religion ablehnen und den Rationalismus vorziehen, schulden Augustinus einen gewissen intellektuellen Zweifel.
Auf den ersten Blick mag eine solche Aussage widersprüchlich und somit unhaltbar erscheinen. Andererseits schrieb der englische Philosoph A.N. Whitehead, das gesamte abendländische Denken - das sowohl das traditionelle Christentum als auch den Rationalismus hervorgebracht hat - sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon. Whiteheads Kommentar mag effekthascherisch übertrieben sein, doch wenn einer solchen Behauptung auch nur ein gewisser Wahrheitsgehalt zugebilligt werden kann, dann hat Augustinus zumindest sehr viel zu diesen Fußnoten beigetragen.
Wie kann Augustinus für derart gegensätzliche Weltbilder eine Rolle spielen?
Es beginnt damit, wie er die Bibel auslegte. Augustinus glaubte, niemand könne die Bibel durch bloßes Lesen verstehen. Das war zu einfach. Wie viele Philosophen vor ihm suchte er immer nach dem tieferen Sinn. So kam er dazu, die Bibel als eine Sammlung von Allegorien oder Erzählungen zu sehen, deren Figuren und Ereignisse eine tiefere, oft moralische Bedeutung haben. Die allegorische Deutung neigt dazu, die wörtlichen Aspekte eines Texts zu vernachlässigen, und sucht höhere Sinnebenen zu schaffen, die sich nur Eingeweihten erschließen. Der Text wird so zu einer verschlüsselten Botschaft.
Peter Brown bezeichnet Augustinus' allegorische Bibelauslegung in seiner Biographie jedoch als „Selbstzweck“. Augustinus sei über die Bemühungen der Philosophen hinausgegangen und habe „eine einzigartig umfassende Erklärung geschaffen, warum Allegorie überhaupt nötig war“. Die Bibel sei ein Werk, das Philosophen, aber nicht Laien verstehen könnten, sagte er. In seiner Erklärung, warum Allegorie notwendig sei, schrieb Augustinus, dass Sprache einfach ein System von Zeichen bzw. Symbolen sei. Wie Freud später zu der Auffassung kam, dass Träume Einblick in die Psyche des Träumers geben und dabei unzählige Möglichkeiten eröffnen, so sah Augustinus die Funktion der Sprache darin, auf mehreren Ebenen Sinn zu vermitteln. Für Augustinus bestand das Ziel des Verstehens darin, sich über die materiellen Dinge des Lebens zu erheben und Gott zu begegnen - als „erhabene Gegenwart in der Seele der Weisen, wenn ihr Geist sich über die Materie erhebt“ (aus De Civitate Dei - die Stadt Gottes).
Augustinus war nicht der erste, der die Schrift mit Hilfe der Allegorie auslegte. Die Methode hatte im ägyptischen Alexandria - einem der großen Zentren der Gelehrsamkeit im Römischen Reich mit einer berühmten Bibliothek - einen fruchtbaren Heimatboden. Im ersten Jahrhundert hatte dort der jüdische Religionsphilosoph Philon gelebt, der sich der allegorischen Methode bedient hatte, um die hebräischen Schriften im Licht der platonischen Philosophie neu zu deuten.
Im Christentum machte die allegorische, bildhafte Deutung zuerst im frühen 3. Jahrhundert Schule mit den Schriften des Clemens von Alexandria und des Origenes, eines Studienfreundes von Plotin, der später der Vater des Neoplatonismus wurde. So entstand die Alexandrinische Schule, die eine Zeit lang im Gegensatz zur Schule von Antiochia in Syrien stand. Antiochia war dafür bekannt, dass man dort der wörtlichen Schriftauslegung den Vorzug gab, wie sie über Jahrhunderte von jüdischen Kommentatoren und dann von den Aposteln des Neuen Testaments praktiziert worden war. Die Bezeichnung wörtlich schloss nicht die Anwendung von Allegorie oder Typologie [Lehre vom Typus; wissenschaftliche Beschreibung und Einteilung eines Gegenstandsbereichs nach Typen] in der Schrift aus, sondern drückte die Ablehnung der alexandrinischen Methode aus, die auf dem Weltbild des Neoplatonismus beruhte. Doch in Augustinus fand die Alexandrinische Schule einen neuen Verfechter. Kühn warf er sein Gewicht für ihre Methode der Bibelauslegung in die Waagschale.
Der wichtigste Beitrag des Augustinus war sein Werk De Civitate Dei (Die Stadt Gottes), in dem er alle Eingriffe Gottes in die menschliche Geschichte - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - einer allegorischen Auslegung unterzog. Philosophie und Heilige Schrift wurden verschmolzen. In dem künftigen, ätherischen Neuen Jerusalem würde sich alles erfüllen, nicht in einer erneuerten Version dieser Welt. Brown schreibt: „Die Tugenden, welche die Römer ihren Helden zugeschrieben hatten, würden erst in den Bürgern dieser anderen Stadt verwirklicht werden; und nur innerhalb der Mauern des Himmlischen Jerusalem könne Ciceros noble Definition vom Wesen der römischen res publica [Republik] erreicht werden.“
Den Namen für sein Werk fand Augustinus in Psalm 87, 3: „Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes“, doch er missdeutete die Absicht des Psalmisten. Der Psalm und sein Appell an die Herrschaft Gottes beziehen sich eindeutig auf die Herrschaft Gottes in der Welt der Menschen. Darüber hinaus nimmt der Psalm auf die bekannten Prophezeiungen von Jesaja 2, 1-4 Bezug, dass alle Völker zum irdischen Jerusalem kommen werden, um die Wege des Herrn zu lernen. Dies ist ein Vorläufer der Vision vom endgültigen Neuen Jerusalem im Buch der Offenbarung. Die hebräische Bibel betont das buchstäbliche Eingreifen Gottes in die Angelegenheiten der Menschen - etwas, das mit einer philosophischen Sichtweise unvereinbar war. Johannes' Vision des Neuen Jerusalem zeigt einen Zustand, der erst eintritt, nachdem die Menschheit ein Jahrtausend des Friedens, des Wohlergehens und des Glücks erlebt hat. Augustinus mischte einfach beide Sichtweisen zu einer zusammen und erwies dabei der Klarheit der Bibel einen sehr schlechten Dienst.
Wie die Platoniker hatten auch die Neuheiden ihre Religion über Jahrhunderte in Debatten verfeinert. Das Christentum des Augustinus wirkte dagegen schwächlich und mangelhaft.
Wie bei den Schriften des Augustinus häufig der Fall, war De Civitate Dei eine Reaktion auf die Bedrohung seines Glaubens und des Glaubens seiner Kirche. Im 5. Jahrhundert entwickelte sich seine Heimat Nordafrika zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge aus Italien, das von den Westgoten überrannt wurde. Unter diesen Flüchtlingen waren viele gebildete Neuheiden, deren Familien Augustinus zum Teil gekannt hatte, als er in Rom und Mailand lehrte. Sie brachten nicht nur ihre heidnischen Praktiken mit, sondern auch ihre heidnischen Theologien. Wie die Platoniker hatten auch sie ihre Religion über Jahrhunderte in Debatten verfeinert. Das Christentum des Augustinus wirkte dagegen schwächlich und mangelhaft.
Brown bringt einen treffenden modernen Vergleich für die Lage, in der sich Augustinus sah: „Die Inkarnation [Gottes als Christus] zu akzeptieren wäre vergleichbar mit der Leugnung der Evolution durch einen modernen Europäer gewesen: Er hätte nicht nur das fortschrittlichste vernünftig begründete Wissen, das ihm zur Verfügung stand, abgelehnt, sondern dadurch implizit auch die gesamte Kultur, die von diesen Errungenschaften geprägt war. Grob gesagt, die Heiden waren die ,Weisen‘, die ,Erfahrenen‘, die prudentes; und die Christen waren ,dumm‘.“ Um diese „Weisen“ aus ihrem Heidentum zu retten, antwortete Augustinus ihnen in ihrem eigenen Stil, in ihrer Sprache und Denkweise, und zitierte ihre Philosophen. Dabei verschmolz er die Gedanken dieser Philosophen mit der Bibel. Ihre Ideale und Moralvorstellungen waren denen der Heiligen Schrift ebenbürtig und würden einen gleichwertigen Platz in der Stadt Gottes finden. Die philosophische Methode, insbesondere der Neoplatonismus mit seiner allegorischen Sichtweise, wurde das Mittel, um das Christentum zu verstehen.
Aufgrund seiner Vorliebe für die Allegorie übernahm Augustinus so die Sicht- und Denkweise der Philosophen der Vergangenheit. Doch ist dies für uns heute noch von Bedeutung? Betrachten wir zwei Bereiche, in denen die Ansichten des Augustinus von der Bibel abweichen und sich auf die moderne Gesellschaft ausgewirkt haben.
PHILOSOPHISCHER GLAUBE
Glaube wurde ein bleibender Bestandteil des augustinischen Beitrags zur Theologie. Doch wie kann Glaube mit dem Verstand in Einklang gebracht werden?
Die hellenistischen Philosophen sahen die Realität als rational und somit den Gesetzen der Ratio - des Verstandes bzw. der Vernunft - unterworfen. Die Grundlage der rationalen Welterklärung und des Verstandes war die Mathematik. Wie Platon glaubte Augustinus, dass in allem Seienden mathematische Prinzipien steckten und dass diese entscheidende Aufschlüsse über den Sinn des menschlichen Daseins geben konnten. Dies schloss die Ästhetik ebenso ein wie andere abstrakte Aspekte des Lebens. Augustinus zufolge war ein Mensch, der Verständnis für Mathematik hatte, schon ein halber Philosoph oder Theologe. In einer Welt der Ungewissheit waren die reinen Wahrheiten der Mathematik unendlich viel gewisser als alles, das die fünf Sinne wahrnehmen konnten. Die Sinne gehörten schließlich zum Körper, der materiell und somit böse war - im Gegensatz zur Seele bzw. dem inneren Menschen. So glaubte Augustinus mit Platon, Verstehen beruhe auf abstrakten Denkprozessen, nicht auf Sinneswahrnehmungen.
Augustinus war der Ansicht, angesichts des Unbekannten müsse ein Mensch sich unsichtbare Realitäten vergegenwärtigen, darüber meditieren, ähnlich wie man eine abstrakte Geometrieaufgabe löst. Solche Meditationen oder Geistesübungen würden zum Verständnis der geheimnisvollen Aspekte Gottes, etwa der Unsterblichkeit, und somit auch zum Glauben führen. All dies entsprach dem Mystizismus des Plotin und Augustinus' eigener Sehnsucht nach dem Zustand der Ekstase. So wurde das Verstehen oder der Gebrauch des Verstandes zur einzigen Grundlage des Glaubens. Eine Beziehung mit Gott beruhte einzig auf dem Verstand - einem Verstand, der die Dinge rein theoretisch betrachtete, ohne Bezug zu praktischer Erfahrung.
Dementsprechend hatte der Neoplatonismus, auf den Augustinus aufbaute, keinen Platz für das Experiment und die Praxis. Eine Naturwissenschaft, die auf dem Weg der Beobachtung und des Experiments nach Wissen gesucht hätte, war für die Neoplatoniker von keinerlei Interesse; solche Beschäftigungen waren unter der Würde von Philosophen; damit hatten sich Handwerker zu plagen. Gotteserkenntnis wurde zur akademischen Übung, bei der der Philosoph seine Argumentation mit seiner eigenen Autorität oder durch den „Autoritätsbeweis“, das Zitieren einer Autorität, eines anerkannten Philosophen/Theologen, stützte. Parallel hierzu hatte sich in zahlreichen Kirchenkonzilien des 4. Jahrhunderts der Standard entwickelt, dass das jeweilige Glaubensbekenntnis die Grundlage der Glaubenssysteme der verschiedenen Kirchen bildete. Man musste weiter nichts tun - nur das Glaubensbekenntnis annehmen, ob man es verstand oder nicht. Wenn das nicht geschah, wurde die Autorität der Kirche und, nach Konstantin, auch des Staates eingesetzt, um Konformität einzufordern; Ketzern drohte die Todesstrafe. Die Rechtgläubigkeit wurde zum Maßstab des Christseins, nicht das Verhalten oder die Praxis. Tätige Frömmigkeit wurde als Intellekt feindliche und zweitklassige Form des Christseins deklariert.
Glaubensbekenntnissen hatte man schlichtweg zuzustimmen. Vom Bekennenden wurde nichts weiter verlangt als das Akzeptieren einer Autorität - in diesem Fall die der Kirche. Augustinus' neoplatonische Glaubensauffassung zementierte diesen Standard in einer Religion, die mittlerweile zur Staatsreligion geworden war.
Welche Auswirkungen hatte dies auf die Rationalisten von heute? Der Neoplatonismus des Augustinus bereitete faktisch den Boden für die spätere Spaltung zwischen Kirche und Wissenschaft, die im Zeitalter der Aufklärung einsetzte und sich heute in der Unfähigkeit beider Seiten zur Kommunikation zeigt. Der Neoplatonismus lehnte das praktische Experiment - die Grundlage der wissenschaftlichen Methode - grundsätzlich ab. Er zog es vor, seine Studien dem Theoretischen zu widmen. Für Augustinus erwuchs Wissen über Gott und das menschliche Dasein aus dem Blick nach innen, nicht aus der Untersuchung der Außenwelt.
Augustinus hinterließ der Kirche ein Weltbild, das sein Wissen über die materielle Welt aus der allegorischen Deutung von Bibelstellen gewinnen wollte, die nicht für diesen Zweck geschrieben waren. Der Prozess Galileis illustriert dies. Die Kirche stufte sein Konzept des Universums als Irrlehre ein. Die Ironie dabei ist, dass er dieses während der Messen im Dom von Pisa erfasste, wo er die Bewegung der gewaltigen Kronleuchter unter der gewölbten Decke beobachtete. Die kirchliche Obrigkeit verurteilte ihn zu lebenslangem Hausarrest. Die „Milde“ seiner Strafe ist wahrscheinlich auf seine persönliche Beziehung zum damaligen Papst zurückzuführen.
Das Denken des Augustinus hat das Weltbild der meisten Menschen, die sich zum Christentum bekennen, bis heute geprägt. Aufgrund seiner Definition des Glaubens tat Martin Luther den Jakobusbrief im Neuen Testament als „Strohepistel“ ab. Das Glaubensverständnis des Apostels Jakobus war für Luther fehlerhaft, weil sich der Glaube nach dem Jakobusbrief durch Taten manifestiert - „Werke“ in Luthers Sprache. Für Luther war Glaube eine intellektuelle Auseinandersetzung, die keine konkreten Ansprüche an den Glaubenden stellte. Die Ansprüche seiner katholischen Kirche, gegen die Luther protestierte, stammten seiner Meinung nach von angemaßter Autorität der Kirche über ihre Schäfchen, insbesondere hinsichtlich der Ablässe. Er war auch von Augustinus' Überzeugung beeinflusst, dass Glaube zwar gute Werke hervorbringe, diese aber auf „Liebe“ beruhten - laut Augustinus einer weiteren rein intellektuellen Eigenschaft. So waren die praktischen Aspekte der Liebe leicht zu übersehen.
Es ist aufschlussreich, die lutherische und augustinische Sichtweise mit der hebräischen zu vergleichen, wie sie von der Urkirche und den Autoren des Neuen Testaments ausgedrückt und verstanden worden wäre. David Stern, ein messianischer Jude, hat einen Kommentar zum Neuen Testament aus jüdischer Perspektive geschrieben. Über den Apostel Paulus, der ursprünglich Saulus hieß, schreibt er: „Sha'ul hat eine sehr jüdische Auffassung von Vertrauen (oder,Glauben‘) als etwas, das nicht nur eine geistige Einstellung oder religiöse Überzeugung ist, sondern ein festes Sichverlassen, das Taten hervorbringt“ (Jewish New Testament Commentary zu 1. Thessalonicher 1, 3). Wie Jakobus und andere jüdische Autoren seiner Zeit sah Paulus den Glauben als einen praktischen Teil des Lebens, der sich darin erweist, wie die Menschen handeln - nicht als intellektuelles Konzept, das vom praktischen Leben abgetrennt ist. Auch die Liebe war Praxis; sie bedeutete, nach dem Guten für den Mitmenschen zu streben (1. Korinther 13, 1-8).
Die gleiche Auffassung wird in den Evangelien Jesus zugeschrieben. Sowohl Matthäus als auch Lukas berichten von Jesu Aussage, dass Menschen, die angeblich seinen Namen oder seine Autorität anerkennen, aber nicht tun, was er gebietet, ihr Haus „auf Sand gebaut hätten“ (Matthäus 7, 21-27; Lukas 6, 47-49). Das Johannesevangelium formuliert es noch schärfer: „Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich von mir selbst rede“ (Johannes 7, 17). Hier wird die Erkenntnis Gottes daran geknüpft, seinen Willen zu tun. So wichtig wie für das Judentum waren Taten auch für die Urkirche.
Bis heute ist das Christentum durch die augustinische Lehre vom Glauben ohne Werke geprägt. Die Christenheit urteilt über ihre jüdischen Verwandten und beschuldigt sie, eine Religion der Gerechtigkeit durch Werke zu praktizieren, um sich die Erlösung zu verdienen. Doch die christlichen Vorwürfe gegen die Juden beruhen auf Definitionen, die der Bibel selbst fremd sind. Um mit dem Apostel Jakobus zu sprechen: „So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber“ (Jakobus 2, 17).
DAS PROBLEM ERBSÜNDE
Was Augustinus über das Thema Erbsünde geschrieben hat, wird oft als Reaktion auf seine eigenen sexuellen Ausschweifungen als junger Mann gesehen. In Wirklichkeit gründen seine Überzeugungen viel tiefer, als es aus seinem persönlichen Verhalten abzuleiten wäre. Sie stammen eindeutig aus der Welt der Philosophie.
Augustinus fühlte sich von dem unvermeidlichen Einwand der Philosophen gegen das Christentum herausgefordert: „Wie konnte die Sünde in die Welt kommen, wenn Gott gut ist?“ Augustinus versuchte, diesen Einwand zu widerlegen, und übernahm dabei viel vom Denken der Philosophen (Der Giftbecher des Augustinus).
So kam es, dass Augustinus, wie seine Schriften dokumentieren, die Bibel im Licht der Philosophie umdeutete. Im Zusammenhang mit der Erbsünde verstand er die Geschichte Adams und Evas so, dass sie den Fall der Menschheit aus dem Stand der Gnade beschrieb. Sie sündigten und wurden von Gott bestraft - und mit ihnen waren alle nachfolgenden Menschen, die damals in Adam biologisch gegenwärtig waren, an der Sünde beteiligt. Die Lehre von der angeborenen Sünde und Schuld wurde zur Selbstverständlichkeit, wie in einem amerikanischen Schulbuch zu lesen, das im 17. und 18. Jahrhundert weit verbreitet war: „In Adams Fall haben wir alle gesündigt“.
Augustinus war allerdings nicht der Erfinder der Erbsünde. Neu war seine Verwendung spezifischer neutestamentlicher Texte, um diese Lehre zu stützen, die ab dem späten 2. Jahrhundert von bestimmten Kirchenvätern entwickelt worden war - unter ihnen Irenäus, Origenes und Tertullian. Irenäus bemühte gar keine Schriftstelle für seine Definition; Origenes deutete den Genesis-Bericht über Adam und Eva als platonische Allegorie um und lehrte, die Sünde sei allein durch den freien Willen möglich; und Tertullian leitete seine Version von der Philosophie der Stoa ab.
Obwohl Augustinus von den Argumenten der früheren Kirchenväter überzeugt war, nutzte er die Briefe des Apostels Paulus, insbesondere den Römerbrief, um seine eigenen Vorstellungen von Erbsünde und Schuld zu entwickeln. Heute herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass Augustinus, der der griechischen Sprache nie mächtig war, Paulus mindestens in einem Punkt missverstanden hatte, weil er eine unzulängliche lateinische Übersetzung des griechischen Originals las.
In Römer 5 behandelt Paulus das Thema Sünde. In Vers 12 schreibt er: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“ Etwas später stellt Paulus der Sünde Adams die Gerechtigkeit Christi gegenüber: „Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten“ (Vers 19). Im Gegensatz zu anderen Theologen seiner Zeit entnahm Augustinus diesen Bibelstellen, dass die Sünde durch den Geschlechtsakt auf biologischem Weg von Adam an alle seine Nachkommen vererbt wurde, und setzte so sexuelle Lust mit Sünde gleich. Doch wie konnte er zu dieser Auslegung kommen, wenn sexuelle Beziehungen zwischen Eheleuten zurzeit Jesu und des Paulus in der jüdischen Gesellschaft als ehrenhaft und gut galten?
Augustinus' Ansichten über Sex waren durch Vorstellungen außerhalb der Bibel verzerrt. Weil in der Philosophie so vieles auf dem Dualismus beruhte, in dem das Körperliche als böse und das Geistige als gut bewertet wurde, idealisierten manche Philosophen die Ehelosigkeit. Sexuelle Beziehungen waren körperlich und somit böse.
Da Augustinus den neoplatonischen Philosophen nahe stand, brachte er ihre Sichtweise in die Kirche ein. Dies wirkte sich auf die Entwicklung der Lehre aus. Man ging zum Beispiel davon aus, Jesus sei unbefleckt empfangen worden - ohne Sünde, da sein Vater Gott war. Da aber seine Mutter Maria einen menschlichen Vater hatte, war sie von der Erbsünde betroffen. Um Jesus Christus nun als perfekten Nachkommen zu präsentieren, der von keinem Elternteil Sünde geerbt hatte, musste die Kirche einen Weg finden, Maria als sündenfrei zu bezeichnen. Das tat sie mit der Lehre der unbefleckten Empfängnis, obwohl dies unausweichlich weitere Fragen aufwirft.
Andere Babys hatten nicht so viel Glück. Rund 800 Jahre später weitete der katholische Theologe Anselm von Canterbury die Anwendung der augustinischen Lehre von der Erbsünde aus und verkündete, dass ungetaufte Neugeborene, die starben, als Sünder starben; sie hätten keinen Zugang zum ewigen Leben.
Die Welt, aus der Paulus kam, sah sexuelle Beziehungen ganz anders, besonders eheliche. Sex war nicht böse; er gehörte zur materiellen Schöpfung, die Gott für gut befunden hatte (1. Mose 1, 31). Der Autor des Hebräerbriefes unterstützt diese Sicht, indem er das Ehebett als „unbefleckt“, d.h. rein oder heilig bezeichnet; mit anderen Worten: Der Geschlechtsakt beeinträchtigte die Beziehung eines Menschen zu Gott nicht (Hebräer 13, 4). Der Apostel Paulus entwickelt diesen Gedanken im ersten Korintherbrief weiter und ermahnt die Eheleute, sich einander nicht vorzuenthalten, sondern die ehelichen Pflichten angemessen zu erfüllen. In der sexuellen Beziehung solle jeder Partner auf das Wohl des anderen achten, nicht nur auf seine eigene Befriedigung. Augustinus' Auffassung von Sex als Sünde entspricht also nicht der Lehre des Neuen Testaments - und auch nicht der Lehre des Alten Testaments, wo es heißt: „Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters“ (Hesekiel 18, 19-20).
Auch hätte Paulus die augustinische Vorstellung von der biologischen Übertragung von Sünde abgelehnt. Er spricht davon, dass die Menschheit von einem Geistwesen gefangen gehalten wird, das sie zu Knechten der Sünde macht (2. Korinther 4, 4-6; Epheser 2, 1-2). Paulus sieht die ganze Welt in der Knechtschaft des „Mächtigen, der in der Luft herrscht“, nämlich Satans. Er schreibt, dass der menschliche Geist entweder dem Geist dieser Welt oder dem Geist Gottes untertan sein kann (1. Korinther 2, 6-14). Und er warnt die Christen, dass ihr Kampf gegen die Sünde ein Kampf gegen geistige, nicht physische Kräfte ist (Epheser 6, 10-18).
Wenn Paulus davon spricht, dass die Sünde „in die Welt gekommen“ ist, meint er die Tatsache, dass sich Adam schon damals freiwillig Satans sündiger Natur hingab - mit der auch Jesus konfrontiert wurde, aber die er von sich wies (Matthäus 4, 3-11; Römer 5, 19). Durch diese Tat sorgte Adam dafür, dass seine Nachkommen unter Satans Herrschaft und Einfluss sein würden. Darum spricht der Psalmist in Psalm 51 davon, in Sünde empfangen worden zu sein. Nicht der Akt der Empfängnis war Sünde, sondern durch die Empfängnis kam er in eine von der Sünde versklavte Welt.
So sah Paulus Sünde eher in einer geistigen statt nur biologischen Dimension. Dies wird später in seinem Römerbrief verstärkt, wo er ausführt, wie die Menschheit in der Knechtschaft geistiger Kräfte lebt (Römer 6, 13-23). Christen haben die Wahl, Diener Jesu Christi zu werden, etwas, das nur durch den heiligen Geist möglich ist. Es ist dies eine individuelle, eigenverantwortliche Wahl und keine Sache der Vererbung. In seinem Kommentar mit dem Titel „The Mystery of Romans“ vergleicht Mark Nanos die Entscheidung Jesu Christi mit der Adams: „Anders als Adam gab Jesus der Stimme des Versuchers nicht nach; er ,aß‘ nicht. Er hörte das Wort Gottes, glaubte und gehorchte.“
Jesus Christus kam, um Satan als Herrscher der Welt abzulösen, sodass die Sünde, in deren Knechtschaft die Menschheit lebt, überwunden werden konnte (Römer 16, 20). Diese Freiheit wird heute denen geschenkt, die Gott zu seinem Sohn zieht, aber nach der Wiederkunft Christi werden sie alle erhalten, die willens sind. Dies war einer der Gründe, warum die Urkirche so dringend auf die Wiederkunft Christi wartete - damit die ganze Menschheit befreit werden könnte.
Augustinus' neoplatonische, dualistische Identifikation von körperlich mit böse und geistig mit gut deckt sich eindeutig nicht mit der Sicht des Paulus. Dies führt uns zu einer zweiten einflussreichen Lehre des Augustinus im Hinblick auf die Sünde. Seiner Meinung nach ist der „Fall der Menschheit“ die Folge von Sünde. Die Menschheit habe die geistige Beziehung mit ihrem Schöpfer verloren und sei somit in einen niedrigeren Stand zurückgefallen. Ist das eine Lehre, die von den Schriften des Paulus gestützt wird?
Gewiss sah Paulus das Fehlen einer geistigen Beziehung und wusste, dass Sünde zum Tod führt (Römer 6, 15-18). Er sah, dass die Welt von ihrem Schöpfer entfremdet war (Epheser 2, 12; 4, 18) und dass dies nur durch das Eingreifen Gottes zu korrigieren war. Doch Paulus sah auch eine Chance für die Menschheit, wieder in eine Beziehung mit Gott zu kommen, nachdem sie im Garten Eden den Zugang zu ihm verloren hatte. Dies konnte jedoch nur geschehen, wenn die Menschheit eine „neue Schöpfung“ in Gottes Händen wurde. Anstatt den Zustand der Menschheit wie Augustinus als „gefallen“ darzustellen, beschreibt Paulus eher, dass sie darin versagt hat, das anzunehmen, was Gott ihr angeboten hat. Paulus bezeichnet nur Menschen, die einmal eine Beziehung mit Gott hatten und dann die Wahrheit ablehnen, als abgefallen (Galater 5, 4).
Die Sicht des Paulus deckt sich auch mit dem Rest des biblischen Berichts, denn laut 1. Mose wurde Adam und Eva nach ihrer Sünde der Zugang zum Baum des Lebens, der ihnen ewiges Leben gegeben hätte, verwehrt. Sie wurden zwar infolge der Sünde von Gott getrennt oder entfremdet und aus dem Garten Eden vertrieben, aber eigentlich hatten sie sich von vornherein nie auf die Beziehung mit Gott eingelassen, die er wünschte - nämlich, dass sie den Weg Gottes gewählt und dadurch die Berechtigung erhalten hätten, vom Baum des Lebens zu essen.
Augustinus' Fehldeutung der Sünde beruht darauf, dass er die Bibel durch das Prisma des Dualismus las - und wird tragischerweise von den meisten zeitgenössischen Theologen als Dogma akzeptiert. Die Lehre der Erbsünde hat mehr mit Augustinus' Wunsch zu tun, den Philosophen nachzueifern, als mit der Heiligen Schrift.