Ein Traum, der falsch lief
Führte Sigmund Freuds Sehnsucht nach Größe zu einem verzerrten Bild der menschlichen Psyche? Der Vater der Psychoanalyse ist bis heute nicht unumstritten.
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(TEIL 2)
ZUR SERIE
Wien, 22. März 1938 - Die österreichische Jüdin Anna wird festgenommen und zum Gestapo-Hauptquartier im Hotel Metropol verbracht. Während sie im Gang wartet, fürchtet sie, dass der Tag ohne Verhör endet und dass man sie am Abend hinausscheucht, um auf die Deportation oder Hinrichtung zu warten.
Ihre alten Eltern warten zu Hause voller Angst; ihr Vater läuft ruhelos hin und her, eine seiner speziellen Zigarren nach der anderen rauchend. Der Hausarzt Max Schur ist bei ihnen und berichtet später, dass dies für Annas Vater der schlimmste Tag seines Lebens war.
Zur Erleichterung der Familie kommt Anna zurück und erklärt, die Nazis, die sie verhört haben, hätten sich vergewissern wollen, dass die internationale Gesellschaft ihres Vaters wirklich eine wissenschaftliche und keine politische Organisation sei.
RUHM IM EXIL
Aufmerksam beobachtete William Bullitt, der US-Botschafter in Frankreich, die Ereignisse jenes Tages aus der Ferne. von,. Er und Annas Vater, Sigmund Freud, hatten gemeinsam eine psychologische Studie des Präsidenten Woodrow Wilson verfasst (unveröffentlicht bis 1967). Einer von Bullitts Protegés war der amerikanische Generalkonsul in Wien, und zusammen bemühten sie sich, den Psychoanalytiker und seine Familie aus den immer größeren Gefahren für die jüdische Gemeinschaft zu befreien. Bald beteiligten sich auch der US-Außenminister Cordell Hull sowie der deutsche Botschafter in Paris und der amerikanische Botschafter in Berlin. Nach vielen Besuchen bei Anwälten und Nazibehörden in Wien durften Freud, seine Frau Martha und Anna ausreisen. Sie fuhren mit der Eisenbahn nach Paris und von dort nach London, wo sie am 6. Juni eintrafen.
Mit 82 Jahren, im Exil und an Kieferkrebs erkrankt, nahm Sigmund Freud seinen letzten Wohnsitz in England. Dort suchten ihn die Berühmten und weniger Berühmten auf, wie zuvor in Wien: H.G. Wells, Salvador Dalí, Virginia und Leonard Woolf, Blanche Knopf (die Frau des amerikanischen Verlegers Alfred Knopf) und viele andere. Er sprach von der „Horde von Autogrammjägern, Narren, Irren und Frommen, die Traktate und Evangelien schicken, meine Seele retten, den Weg zu Christus weisen und mich über die Zukunft Israels aufklären wollen. . . . Kurz, zum ersten Mal und spät im Leben habe ich erfahren, was Ruhm bedeutet.“
Wäre Freud noch am Leben, so würde er sicher sehen, dass sein Ruhm in viele Bereiche des Lebens gedrungen ist und dass seine Begriffe überall in Sprache und Denken übernommen worden sind - ob man seine Werke gelesen hat oder nicht. Wer hat noch nie über die Deutung von Träumen nachgedacht, über den Einfluss der Eltern, als man noch ein Kind war, die Vaterfigur, emotionale Blockade, das Ich, die „freudsche Fehlleistung“ und die Macht des Unbewussten? Wie viele Filme, Theaterstücke und Romane haben diese Themen aufgegriffen - verdrängte Erinnerungen, Ödipuskomplex, sublimierte Aggression, Mutterliebe und Todestrieb?
Am 10. November 1938 notierte Freud in seinem Tagebuch: „Pogrome in Deutschland“. In der Nacht zuvor hatten die Nazis in ganz Deutschland Gewalt angewendet und jüdisches Eigentum zerstört. Wien blieb von der Kristallnacht - der Nacht der zerbrochenen Fenster - nicht verschont. Freud bangte um seine vier alten Schwestern, die in Wien geblieben waren. Er sicherte sich die Hilfe seiner Freundin und Gönnerin Marie Bonaparte, doch vergeblich. Es war schon zu spät für viele, die geblieben waren. Eine der Schwestern verhungerte schließlich im Konzentrationslager Theresienstadt, und die anderen drei wurden in einem Vernichtungslager ermordet.
Freud erfuhr nie, was mit seinen Schwestern geschah, und er kehrte nie nach Österreich zurück. Er starb am 23. September 1939 in seiner Londoner Wohnung am Regent's Park. In einer Vereinbarung mit seinem Arzt hatte Freud zehn Jahre zuvor festgelegt, dass er nicht über einen gewissen Punkt hinaus zu leiden haben würde. Als er spürte, dass das Ende nah war, erinnerte er seinen Arzt an sein Versprechen. Schur erfüllte den Wunsch seines Patienten und beschleunigte seinen Tod mit drei überdurchschnittlich hoch dosierten Morphiumspritzen in zwei Tagen. Wie Freuds Biograf Peter Gay schreibt, hatte Freud „dafür gesorgt, dass seine geheime Bitte erfüllt wurde. Der alte Stoiker hatte die Kontrolle über sein Leben bis zum Schluss behalten.“
Freuds Verständnis davon, wie die menschliche Psyche funktioniert, hat viele Lebensbereiche beeinflusst, einige davon fast unbemerkt.
Die letzten Ereignisse in Freuds Leben waren in vielerlei Hinsicht der tragische Schlussstein eines Lebens inmitten großer Kontroversen. Als Vater der Psychoanalyse wurde er gleichzeitig vergöttert und verteufelt. Auch Jahrzehnte nach seinem Tod bleibt er eine eminente Größe. Sein Verständnis der menschlichen Psyche hat viele Lebensbereiche beeinflusst, zum Teil fast unbemerkt.
WISSENSCHAFT DER PSYCHE
In dieser Serie über die sechs dominanten Theorien der modernen Kultur haben wir die Werke von Charles Darwin und Karl Marx untersucht. Sie gelten als die Entdecker der Mechanismen biologischer und gesellschaftlicher Entwicklung - und Sigmund Freud ist ihr Gegenstück im Hinblick auf die Mechanik der menschlichen Psyche. Er selbst sah sich in der Rolle seiner Idole, Darwins und des Astronomen Johannes Kepler, die, wie er sagte, „die Welt auf den Kopf gestellt“ hatten. Freud hatte den Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, und empfand sich als Held der Wissenschaft.
Bald nach seiner Ankunft in London erhielt der berühmte Psychoanalytiker Besuch von drei Sekretären der Royal Society. Sie brachten ihm das Satzungsbuch der Mitglieder zum Unterzeichnen und überließen ihm ein Exemplar. Mit großem Stolz schrieb Freud einem Freund: „Wenn Du hier wärest, könnte ich Dir die Unterschriften von I. Newton bis Charles Darwin zeigen. Gute Gesellschaft!“
Darwin, Marx und Freud entwickelten für ihre Theorien Modelle, die sie für wissenschaftlich hielten. Alle drei lebten ein Leben voller Widersprüche.
Darwin, Marx und Freud entwickelten für ihre Theorien Modelle, die sie für wissenschaftlich hielten. Alle drei lebten mit vielen Widersprüchen, und alle drei hatten ganz bestimmte Vorstellungen von menschlichem Verhalten - einschließlich der Religion.
Die freudsche Erklärung für das Seelenleben des Menschen geht davon aus, dass wir alle das Ergebnis dunkler Regungen des Unbewussten sind. Die Psyche bildet sich in der frühesten Kindheit und im Heranwachsen und ist sexueller Natur, ein Reservoir unerfüllter Inzestwünsche. Freud wollte die universellen Gesetze der Psyche herausfinden und erläutern - aufgrund einiger Fälle im Wien des frühen 20. Jahrhunderts sowie seiner eigenen, selbst analysierten Träume und Erfahrungen.
VERLUSTE IN DER KINDHEIT
Sigismund Schlomo Freud wurde 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg, Mähren im heutigen Tschechien geboren. Er war das erste Kind des Wollhändlers Kallamon Jacob Freud mit seiner Frau Amalia Nathanson Freud. Aus seiner ersten Ehe hatte Jacob zwei erwachsene Söhne, die beide im Geschäft des Vaters mitarbeiteten, während der junge Sigmund aufwuchs. Freiberg war eine Kleinstadt rund 240 km nördlich von Wien, die damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte. Nur rund 3% der Freiberger waren Juden; die meisten waren katholische Tschechen.
Freud wuchs in einer Atmosphäre wachsender Toleranz gegenüber Juden auf. Obwohl seine Eltern nicht religiös waren, feierten sie Purim und das Passafest als gesellschaftliche Anlässe. Ein gewisser Antisemitismus war noch zu spüren, doch Freuds kindliche Unsicherheiten und Verlustängste hatten einen anderen Grund. Bald wurde sein Bruder Julius geboren, und die Vier lebten auf engem Raum zusammen. So bekam er alle Aspekte des Familienlebens aus nächster Nähe mit - Geburt, eheliche Beziehungen, Krankheit und Tod.
Das Geschäft, das die Familie betrieb, erforderte, dass Freud als Kind von drei Frauen betreut wurde: seiner Mutter, der Frau seines Halbbruders und einem tschechischen Kindermädchen. Sie alle erscheinen in seinem wichtigsten psychoanalytischen Werk Die Traumdeutung (1900, 1913).
Als Freud noch keine zwei Jahre alt war, verlor er seinen kleinen Bruder Julius, der mit etwa sechs bis acht Monaten an einer Darminfektion starb. Wahrscheinlich starb er zu Hause, und wahrscheinlich war Freud dabei. Julius war nach Amalias 20-jährigem Bruder benannt worden, der etwa zur gleichen Zeit, als das Baby geboren wurde, an Tuberkulose starb.
Innerhalb kurzer Zeit erlebte Freud also die Ankunft eines Rivalen um die mütterliche Zuwendung und dann den Tod dieses Kindes. Sicher war seine Mutter nach ihrem doppelten Verlust niedergedrückt, und der Junge muss unter dem Entzug ihrer Zuwendung gelitten haben. Ehe Freud zehn Jahre alt wurde, hatte seine Mutter sechs weitere Kinder bekommen. Vielleicht erklärt dies die Angst vor dem Verlust der Mutterfigur, die in seinen Schriften so oft vorkommt.
Mit etwa 2½ Jahren verlor er mit dem tschechischen Kindermädchen eine weitere Mutterfigur. Sie wurde angeblich beim Stehlen erwischt, festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Sie hatte Freud regelmäßig in die katholische Messe mitgenommen, wo er den Priester und die Riten mit großem Interesse beobachtet hatte. Später erinnerte er sich daran, dass das Kindermädchen ihm über den Himmel und die Hölle erzählte und, was für ihn weit positiver war, ihm half, ein Gefühl für seine eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.
Als der Junge 3½ Jahre alt war, erlitt er weitere Verluste: Das väterliche Geschäft brach zusammen, die Großfamilie wurde auseinander gerissen, und innerhalb kurzer Zeit gab es zwei Umzüge - zuerst nach Leipzig, dann nach Wien. In der österreichischen Hauptstadt lebte er dann während der nächsten 78 Jahre.
Offenbar entfloh Freud diesen schwierigen Bedingungen seiner Kindheit mit Hilfe heroischer Literatur; er las über Alexander den Großen, Napoleon und Hannibal. Der griechische Ödipus, der seinen Vater übertraf und das Rätsel der Sphinx löste, faszinierte ihn. Diese Themen und Gestalten sollten in Freuds Schriften eine wichtige Rolle spielen. Sein veröffentlichtes Werk umfasst 24 Bände, und es sind mehr als 20 000 seiner Briefe erhalten.
DIE DUNKLE SEITE
Freud wurde schließlich Arzt und spezialisierte sich auf Nervenheilkunde, Psychiatrie und den pharmazeutischen Nutzen des Kokains. (Letzteres warf einen langen Schatten über seine Laufbahn, denn einer seiner Kollegen wurde aufgrund von Freuds Empfehlungen schwer abhängig.) Während einer kurzen Zeit in Paris erwachte auch sein Interesse an der Hypnose und der Möglichkeit, bestimmte Krankheiten psychologisch zu erklären.
In Paris erforschte Freud die Eigenschaften des Kokains und nahm selbst so viel davon, dass er häufig Probleme mit den Nasennebenhöhlen bekam. Damals glaubte man, Kokain steigere die Gehirnfunktion, die Körperkraft und die Potenz.
Anscheinend nahm Freud zum ersten Mal am 30. April 1884 Kokain, zur Feier der Walpurgisnacht. Der Legende zufolge sammeln sich am Vorabend des 1. Mai noch einmal die Hexen, ehe das Licht des Sommers die Dunkelheit des Winters endgültig überwindet. Paul Vitz schrieb 1988 in seinem Buch Sigmund Freud's Christian Unconscious, die Walpurgisnacht sei „in der europäischen Tradition eine Versammlung von Hexern aus ganz Europa . . . zu einer Feier des Bösen, Sex mit dem Teufel und einer allgemeinen Orgie.“
Vitz merkt an, dass Freud häufig unter Depressionen litt, insbesondere nachdem er intensiv an einem Projekt gearbeitet hatte. Er zitiert einen Brief, den der Psychologe kurz nach der Walpurgisnacht 1884 an seine Verlobte schrieb: „In meiner letzten, schweren Depression nahm ich wieder Coca, und eine kleine Dosis hob mich auf wunderbare Weise in die Höhe. Ich bin gegenwärtig dabei, die Literatur für einen Lobgesang auf dieses Zaubermittel zu sammeln.“
Hier zeigt sich eine interessante Möglichkeit. Freud identifizierte sich stark mit Goethes Faust, der einen Pakt mit dem Teufel schloss und dann dem Bösen zu einer Feier der Walpurgisnacht folgte. Es gab Vermutungen, dass Freud selbst zu Beginn seiner Laufbahn einen ähnlichen Pakt geschlossen habe.
Der Teufel ist allerdings ein wichtiges Thema in Freuds Schriften. Als er älter war, schrieb er in einer besonders schwierigen depressiven Phase nach intensiver Forschungsarbeit: „Die großen Probleme sind noch ungelöst. Es ist eine intellektuelle Hölle, Schicht auf Schicht, in der alles unruhig glänzt und pulsiert; und der Umriss von Amor-Luzifer kommt im dunkelsten Zentrum in Sicht.“ Er schrieb auch: „Weißt Du nicht, dass ich der Teufel bin? Mein Leben lang musste ich den Teufel spielen, damit andere mit den Materialien, die ich produzierte, die schönste Kathedrale bauen konnten.“
WEG VON DEN WURZELN
Als Freud im Jahr 1886 aus Paris zurückkam, heiratete er Martha Bernays. Sie stammte von einem bekannten Hamburger Rabbi und von dem deutsch-jüdischen Dichter Heinrich Heine ab. Das Paar hatte sechs Kinder, darunter Freuds Lieblingstochter Anna, die selbst eine führende Psychoanalytikerin wurde.
Freud war überzeugt, dass die großen Religionen der wissenschaftlichen Welt nichts zu bieten hatten. Wenn die Wissenschaft gedeihen sollte, so glaubte er, sei es notwendig, die Glaubwürdigkeit der Religion zu stürzen.
Trotz seiner Verbindung mit einer religiösen Familie war Freud überzeugt, dass die großen Religionen der wissenschaftlichen Welt nichts zu bieten hatten. Sie waren überholte Sehnsüchte, entweder nach einer schützenden Vaterfigur oder nach der Geborgenheit der nährenden Mutter. Wenn die Wissenschaft gedeihen sollte, sei es notwendig, die Glaubwürdigkeit der Religion zu stürzen. Er schrieb: „Von den drei Mächten (Kunst, Philosophie und Religion), die der Wissenschaft den Boden streitig machen können, ist allein die Religion der gefährliche Feind.“
In Die Zukunft einer Illusion (1927, 1928) schrieb er, Glaube sei eine Art psychische Störung, eine „allgemeine Zwangsneurose“. Er schloss, Religion sei eine Illusion oder sogar Wahnvorstellung, die es durch die Erkenntnis, dass Gott einfach eine erfundene Vaterfigur sei, zu überwinden gelte.
Freud stellte Gott nicht nur als eine eingebildete Vaterfigur hin; er ging noch weiter und erklärte Gott und den Teufel zu zwei Seiten einer einzigen Münze. „Es erfordert keine große analytische Weisheit, um zu erahnen, dass Gott und der Teufel ursprünglich ein und dasselbe waren, eine einzige Figur, die später in zwei mit entgegengesetzten Merkmalen aufgespaltet wurde. . . . So ist der Vater der individuelle Prototyp sowohl Gottes als auch des Teufels. Die Tatsache, dass die Figur des Urvaters die eines Wesens mit unbegrenzten Möglichkeiten zum Bösen ist und viel mehr Ähnlichkeit mit dem Teufel hat als mit Gott, muss alle Religionen unauslöschlich geprägt haben.“
Am Ende seines Lebens fand Freud die Zeit, ein Buch zu schreiben, das sich noch einmal mit seinem religiösen Erbe befasste. Er war von dem beeinflusst worden, was er über den Glauben seiner jüdischen Vorfahren wusste. David Bakans Buch Sigmund Freud and the Jewish Mystical Tradition (1958) legt einen Teil dieser Einflüsse dar. Darüber hinaus war er auch davon geprägt worden, dass er durch sein Lieblings-Kindermädchen in sehr jungen Jahren in Kontakt mit der römisch-katholischen Kirche gekommen war. Vitz stellt diese Verbindung in Sigmund Freud's Christian Unconscious her. Im Londoner Exil war Freud dann bereit, Der Mann Moses und die monotheistische Religion zu veröffentlichen, das auf bereits früher von ihm geschriebenen Abhandlungen beruhte.
Kollegen fürchteten, er werde wegen seiner Behauptung, Mose sei in Wirklichkeit kein Israelit gewesen, sondern ein Ägypter, der einen semitischen Stamm unterworfen und ihm den Monotheismus aufgezwungen habe, mit heftiger Opposition von jüdischer und christlicher Seite zu rechnen haben. Laut Freuds Version der Geschichte war die monotheistische Religion etwas, das der Ägypter Mose von dem Pharao Echnaton gelernt hatte, und darüber hinaus war Mose später von den Israeliten umgebracht worden.
Die Gestalt des Mose faszinierte Freud während des größten Teils seines erwachsenen Lebens. Offenbar wollte er die dominante Figur im jüdischen Leben und alles, wofür sie stand, loswerden. Laut Bakan „versuchte Freud in seinem Bekenntnis zum Ödipuskomplex, das Gesetz des Mose in einer Weise umzuschreiben, die besser zum vorherrschenden Geist der Freiheit passte. Er versuchte, unsere Moralbegriffe so umzuarbeiten, dass das Individuum ein reicheres und weniger eingeengtes Leben führen konnte, frei von den Tabus, die das Judentum sich auferlegt hatte, um zu überleben, und die die Christenheit als Lebensweise übernommen hatte.“
Freud wusste, dass seine Gedanken ikonoklastisch (bilderstürmerisch) waren, doch das hinderte ihn nicht daran, zu veröffentlichen, was er im Interesse der Wahrheitssuche für notwendig hielt. Er ließ sich diese Veröffentlichung nicht ausreden. Doch er sagte auch, seine Gedanken würden wahrscheinlich ohnehin recht wenig Einfluss haben - vielleicht, um sich gegen einen Fehlschlag abzusichern. 1939 schrieb er einem Freund: „Niemand, der Trost in der heiligen Bibel oder den Gebeten der Synagoge sucht, ist in Gefahr, seinen Glauben durch mein Predigen zu verlieren. Ich denke sogar, er wird nichts von dem lernen, was ich glaube und in meinen Büchern verteidige. Glaube ist mit solchen Mitteln nicht zu erschüttern. Ich schreibe nicht für das Volk oder die Masse der Gläubigen. Ich produziere nur wissenschaftlichen Stoff für eine interessierte Minderheit, die keinen Glauben zu verlieren hat.“
Interessant hieran ist, dass das Material über Mose dem psychoanalytischen Publikum bereits in mehreren Fachbeiträgen präsentiert worden war; doch nun war Freud fest entschlossen, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das war sehr schade, denn, wie Bakan schreibt: „Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist wirklich eine der gröbsten Entstellungen des Bibeltexts, die je ein angesehener Wissenschaftler in der modernen Zeit begangen hat.“
FEHLERHAFTE VORSTELLUNGEN
In seinem Buch Freud: Darkness in the Midst of Vision (2000) zollt Louis Breger, emeritierter Professor für Psychoanalyse am California Institute of Technology, der Leistung Freuds Anerkennung. Gleichzeitig räumt er ein, dass viele Vorstellungen des Meisters schwere Fehler aufweisen, einfach weil Freud seine eigenen frühen Kindheitserlebnisse missdeutete.
Breger wurde während seiner umfangreichen Beschäftigung mit der Lehre und Praxis der Psychoanalyse „mit den existierenden Biographien vertraut und machte mir ihre Versionen seines [Freuds] Lebens mehr oder minder zueigen.“ Er habe jedoch mit der Zeit viele seiner Ansichten über Freud und den Beruf einfach ins Gegenteil verkehren müssen.
Er schreibt: „In den letzten Jahren kamen mehrere Einflüsse zusammen, die mich dazu führten, diese Ansichten radikal zu ändern. Direkte Erfahrungen mit der Elite in der Welt der Psychoanalyse brachten mich in Kontakt mit Männern und Frauen, die das Beste repräsentierten, das diese Wissenschaft zu bieten hat: leitende Ausbildungs-Analytiker, Direktoren von Instituten, Autoren einflussreicher Schriften und führende Mitglieder der American Psychoanalytic Association. . . . Diese Bekanntschaft mit der tatsächlichen Praxis einer großen Zahl von Psychoanalytikern, mit den Langzeitwirkungen psychoanalytischer Behandlung und der psychoanalytischen Politik war insgesamt eine ernüchternde Erfahrung. . . . Die persönlichen Analysen und Ausbildungsanalysen waren unterschiedlich - manche waren hilfreich, manche nutzlos und andere schädlich; die Lehre war starr und weitgehend überholt und die Politik nicht erleuchteter als anderswo. All diese Erfahrungen trugen dazu bei, mich zu einer neuen Sicht Freuds zu bringen.“
Insbesondere lehnt Breger Freuds zentrale Vorstellung des Ödipuskomplexes ab - dass alle Jungen ihre Mutter sexuell begehren und dadurch in Konflikt mit dem Vater geraten, was zu lebenslangen Schuldgefühlen, Ängsten und sogar Neurosen führt. Er kommt zu dem Schluss, dass zwei der zentralen Gedanken Freuds - dass Frauen sich die Männlichkeit wünschen, die ihnen fehlt („Penisneid“) und dass die größte Furcht der Männer ihre innere Weiblichkeit ist (latente Homosexualität) - haltlos sind. Mit anderen Worten: Breger lehnt das freudsche Grundprinzip ab, nach dem frühkindliche Sexualität der Motor allen menschlichen Handelns sei.
Die Bibel definiert den Menschen natürlich nirgends als von unterschwelligen sexuellen Impulsen getrieben, die aus kindlichen Phantasien stammen. Sie hat allerdings viel darüber zu sagen, die „Werke des Fleisches“ unter Kontrolle zu halten. Sie spricht die Notwendigkeit an, unsere eigenen Triebe in den Griff zu bekommen. Und sie entschuldigt unser Verhalten nicht als das Ergebnis dessen, was jemand anderer uns wirklich oder vermeintlich angetan hat. Wir sind niemals hilflose Opfer. Tatsächlich lehrt sie uns, jeden Aspekt unserer Natur, der uns Probleme bereitet, zu überwinden.
Der Apostel Paulus schreibt: „Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist, und habt nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis; deckt sie vielmehr auf“ (Epheser 5, 8-11).
Freud verbannte Gott und sein Wort ins Reich der antiken Mythen und des Aberglaubens und behauptete, seine eigene Methode sei wissenschaftlich. Doch die wissenschaftliche Methode, auf die er sich stützte, verlangte Objektivität. Dies war das eine, das seine Theorien nicht liefern konnten. Wie Breger schreibt: „Hinter den pauschalen Verallgemeinerungen und hochtrabenden Theorien stand Freuds Sehnsucht nach Größe; sie waren sein Versuch, ein mächtiger, heldenhafter Wissenschaftler zu sein. Es gab nie irgendwelche überzeugenden Beweise für diese Vorstellungen; ihr Ursprung waren vor allem seine Bedürfnisse und seine persönliche Voreingenommenheit.“
Obwohl viele seiner Theorien aufgrund des Fehlens gerade der wissenschaftlichen Belege, an die er glaubte, diskreditiert wurden, haben seine Vorstellungen Eingang in das Denken der meisten Menschen gefunden.
Trotzdem hatte Freud eine tiefe Wirkung auf das Selbstverständnis der Menschen im 20. Jahrhundert. Obwohl viele seiner Theorien aufgrund des Fehlens gerade der wissenschaftlichen Belege, an die er glaubte, diskreditiert wurden, haben seine Vorstellungen Eingang in das Denken der meisten Menschen gefunden. Wir führen ständig sein Vokabular im Mund, ohne Beweise für die Gedanken, die dahinterstehen. Wir kategorisieren menschliches Verhalten in freudschen Begriffen und sagen uns zum Beispiel, unsere Träume müssten dieses oder jenes „bedeuten“. Wir „verdrängen“ unangenehme Ereignisse in unserem Leben. Wir erklären kriminelles Verhalten anhand frühkindlicher Erlebnisse. Sünder sind Opfer, Gott ist eine eingebildete Vaterfigur, und Religion ist eine schlechte Angewohnheit. Das 19. Jahrhundert der simplen „wissenschaftlichen Modelle“ Freuds ist vorbei. Das 20. Jahrhundert der Wirkung Freuds auf die Gesellschaft lebt noch in unserer Mitte. Eine weitere dominante Theorie ohne nachweisbare Grundlage.
In der nächsten Ausgabe befassen wir uns mit den letzten beiden dominanten Theorien dieser Serie, dem Relativismus und dem Positivismus.
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