Warum all das Leid?
Seit Menschengedenken wird immer wieder gefragt, warum Gott nicht eingreift, um Schmerz und Leid in der Welt zu verhindern, wenn er sowohl gut als auch allmächtig ist. Gibt es darauf eine Antwort?
Wie viele Menschen haben sich vom Glauben an Gott abgewandt, weil es so viel Leid gibt? Einer von ihnen war sicher Samuel Beckett, der im 20. Jahrhundert ein umfangreiches Werk schuf und den Literatur-Nobelpreis erhielt. Laut seinem offiziellen Biografen James Knowlson „war es das zentrale Thema Schmerz, Leid und Tod, über das Becketts religiöser Glaube strauchelte und rasch zu Fall kam“. In den 1920er-Jahren waren die Straßen seiner Heimatstadt Dublin voller Männer, die traumatisiert, krank durch Senfgas, versehrt oder verstümmelt aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt waren. Die Konfrontation mit der Realität stand im Widerspruch zu Becketts wohlhabendem, großbürgerlichem Hintergrund.
Wie er selbst bekannte, trug ein Ereignis in seiner Studentenzeit dazu bei, dass er Gott und das Christentum forthin ablehnte. Beckett wuchs als Anglikaner auf; eines Sonntagabends ging er mit seinem Vater zum Gottesdienst, um einen Freund der Familie predigen zu hören. Canon Dobbs sprach von seinen Besuchen bei „den Kranken, den Leidenden, den Sterbenden und den Hinterbliebenen“. Um Menschen in solcher Not zu trösten, pflegte er ihnen zu sagen: „Die Kreuzigung [Christi] war erst der Anfang. Auch du musst etwas in die gemeinsame Kasse einzahlen.“ Beckett war entsetzt darüber, weil auf diese Weise eine Erklärung für unverdientes Leid ausblieb und versucht wurde, das ständige Anwachsen von Schmerzen zu rechtfertigen. Auch dass Leid den Menschen irgendwie für ein besseres Leben nach dem Tod bereitmache, ergab für ihn keinen Sinn; er empfand es als Affront gegen den Leidenden.
„[Beckett] sprach vom Leid seines Bruders und der Grausamkeit eines Gottes – wenn es denn einen gebe –, der über eine solche Welt herrschen könne.“
1954 verbrachte Beckett dreieinhalb Monate mit seinem an Lungenkrebs sterbenden Bruder Frank. Knowlson zufolge war diese Erfahrung außerordentlich qualvoll, die Zeit endlos, die Trauer tief, die Depression schwer. Ähnlich schmerzhaft waren für Sam nur der Tod seines Vaters 1933 und der seiner Mutter 1950 gewesen. In dieser Zeit, als er sich darauf vorbereitete, dass seine Mutter an den Komplikationen ihrer Parkinson-Krankheit und eines Oberschenkelbruchs sterben würde, „hatte er mit bitterer Ironie an seine eigene Situation gedacht – ein Agnostiker, der Gott verzweifelt brauchte, um ihm die Schuld am unnötigen Leid seiner Mutter zu geben“.
Becketts Werk ist überwiegend düster und pessimistisch; in dessen Mittelpunkt steht die Sinn- und Hoffnungslosigkeit des menschlichen Lebens. Sein sehr einflussreiches Drama Waiting for Godot (1952, dt. Warten auf Godot) erzählt von zwei Männern, die auf jemanden warten, der nie kommt und nie kommen wird. Für viele ist seine Hauptaussage, dass der Glaube an Gott nur Enttäuschung in ein ansonsten sinnloses Dasein bringt; dennoch ist das Drama reich an Anspielungen auf die Bibel (der Baum des Lebens, Adam, Kain und Abel, die Kreuzigung, die beiden Räuber, Reue, Gebet). Auch Parallelen zum Buch Hiob wurden darin gesehen.
Trotz seines Agnostizismus schrieb Beckett, wie sein Biograf Anthony Cronin anmerkt, mit Bibel und Konkordanzen in Reichweite. Doch sein Zugang zur heiligen Schrift offenbarte Beckett nicht die Wahrheiten über das Leid in diesem Leben. Stattdessen erklärte er gegen-über dem Autor und Regisseur Colin Duckworth: „Das Christentum ist eine Mythologie, mit der ich bestens vertraut bin. Also nutze ich sie natürlich“ – oft in ironischer und sarkastischer Weise, wie Cronin hinzufügt. Laut Mary Bryden, Professorin an der University of Reading und frühere Vorsitzende der Samuel Beckett Gesellschaft, „ist der hypothetische Gott, der aus Becketts Texten hervorgeht, ein Gott, der sowohl für seine perverse Abwesenheit als auch für seine überwachende Anwesenheit verflucht wird. Er wird abwechselnd abgelehnt, verspottet oder ignoriert, aber er und sein gemarterter Sohn werden nie endgültig ad acta gelegt.“
ÄHNLICHER HERGANG, ANDERER AUSGANG
Einige Jahre früher und einige Meilen weiter nördlich, in Belfast, wurde ein weiterer berühmter Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geboren – C. S. Lewis. Auch er begann sein Leben als Anglikaner in einer großbürgerlichen Familie, und seine Mutter starb an Krebs, als er noch ein Kind war. Mit 15 Jahren wandte er sich vom Christentum ab und wurde Atheist, doch mit 32, inzwischen Professor für Englisch in Oxford, kehrte Lewis zum Glauben seiner Herkunft zurück – auch durch den Einfluss seines römisch-katholischen Kollegen J. R. R. Tolkien (s. „Bio Vision“ in der englischen Ausgabe Winter 2004). Daraufhin konzentrierten sich seine Werke auf christliche Themen, und er wurde einer der bekanntesten Apologeten des Christentums. Seine Romansammlungen The Space Trilogy (dt. Die Perelandra-Trilogie) und The Chronicles of Narnia (dt. Die Chroniken von Narnia) enthalten viele christliche Anklänge.
Im Grabenkrieg in Frankreich sah Lewis Tod und Sterben aus nächster Nähe, und er wurde durch einen versehentlichen Angriff von der eigenen Seite verwundet; doch er kam zu einem ganz anderen Schluss über das Leid als Beckett. 1940 schrieb er The Problem of Pain (dt. Über den Schmerz) und 1961, nach einem großen persönlichen Verlust und einem intensiven Glaubenskampf, das zunächst unter Pseudonym veröffentlichte Buch A Grief Observed (dt. Über die menschliche Trauer). Freunde, die nicht ahnten, dass er der Autor war, empfahlen es ihm tatsächlich als Hilfe in der Trauer. Erst nach seinem Tod wurde es unter seinem Namen neu aufgelegt.
Nach vielen Jahren als Junggeselle hatte Lewis die amerikanisch-jüdische Schriftstellerin Helen Joy Gresham (geb. Davidman) kennengelernt und geheiratet; sie war durch Lewis’ Schriften vom Atheismus abgekommen und vom Christentum überzeugt worden. Als sie 1957 heirateten, war bei ihr bereits Knochenkrebs diagnostiziert worden. Nach einer Erholung und dann einem Rückfall starb sie 1960 unter Schmerzen. Dass er in so kurzer Zeit so sehr geliebt und so viel verloren hatte, brachte Lewis dazu, Gottes Güte infrage zu stellen. In The Problem of Pain schrieb er: „Das Problem, menschliches Leiden mit der Existenz eines liebenden Gottes in Einklang zu bringen, ist nur solange unlösbar, als wir mit dem Wort ,Liebe‘ eine triviale Bedeutung verbinden und die Welt so ansehen, als sei der Mensch ihr Mittelpunkt. Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt. Gott existiert nicht um des Menschen willen. Der Mensch existiert nicht um seiner selbst willen. ,Du hast alle Dinge geschaffen, und zu deiner Freude sind sie da und wurden erschaffen.
„Wenn Gottes Güte unvereinbar damit ist, dass er uns wehtut, dann ist Gott entweder nicht gut, oder es gibt keinen Gott.“
Später im selben Buch schrieb er: „Ich behaupte nicht, Schmerz sei nicht schmerzhaft. Schmerz tut weh. Das ist die Bedeutung des Wortes. Ich versuche nur zu zeigen, dass die alte christliche Lehre, man werde ,durch Leiden vollendet‘, nicht unglaubhaft ist. Zu beweisen, dass es angenehm sei, liegt nicht in meiner Absicht.“
A Grief Observed beruht auf Notizbüchern, die er führte, als er versuchte, den Tod seiner Frau zu verkraften. Dort ringt er mit der Realität des erlittenen Verlusts, statt zu den früheren intellektuellen Argumenten zurückzukehren. Zeitweise ist er vollkommen festgefahren, zornig und voller Zweifel an Gottes Güte, und hat das Gefühl, dass Gott hinter einer Tür steht, die verriegelt und verrammelt ist.
Doch gegen Ende des Buches schreibt er: „Wenn ich Gott diese Fragen vorlege, bekomme ich keine Antwort. Aber es ist ,keine Antwort‘ von ziemlich besonderer Art. Es ist nicht die verschlossene Tür. Es ist eher wie ein wortloser, nicht mitleidloser Blick. Als ob Er den Kopf schüttelt – nicht ablehnend, sondern um die Frage abzutun. Wie: „Ruhig, Kind, du verstehst nicht.‘ […] Kann ein Sterblicher Fragen stellen, die für Gott nicht beantwortbar sind? Recht leicht, würde ich meinen. Alle unsinnigen Fragen sind unbeantwortbar. Wie viele Stunden hat eine Meile? Ist Gelb quadratisch oder rund? So ist wahrscheinlich die Hälfte der Fragen, die wir stellen – die Hälfte unserer großen theologischen und metaphysischen Probleme.“
„Kann ein Sterblicher Fragen stellen, die für Gott nicht beantwortbar sind? Recht leicht, würde ich meinen. Alle unsinnigen Fragen sind unbeantwortbar.“
Das Buch schließt mit einem Zitat aus Dantes Paradiso. Joy „sagte nicht zu mir, sondern zu dem Kaplan: ,Ich bin in Frieden mit Gott.‘ Sie lächelte, aber sie sah nicht mich an. Poi si tornò all’ eterna fontana“ („Dann wandte sie zum ewigen Born sich wieder; d. i. Gott“; Übersetzung dieses Zitats: Karl Vossler).
DAS PROBLEM DES BÖSEN
Sowohl Beckett als auch Lewis rangen auf ihre je eigene Weise mit einem Problem, das die meisten Menschen irgendwann einmal plagt – auch andere Berühmtheiten wie Mark Twain und Charles Darwin. Es ist das Dilemma, das als Theodizee bezeichnet wird, wörtlich die Gerechtigkeit oder Rechtfertigung Gottes: Was rechtfertigt Gottes Verhalten im Hinblick auf die Existenz des Bösen in seiner Schöpfung? Wie kann es neben einem guten Schöpfergott das Böse und Leid in der Welt geben? Der deutsche Philosoph Gottfried Leibniz prägte das Wort 1710, als er versuchte zu beweisen, dass Gottes Güte nicht unvereinbar mit der Existenz des „Bösen“ sei. Damit wollte er dem Skeptiker Pierre Bayle widersprechen, der geschrieben hatte, das Leid beweise, dass Gott nicht gut und nicht allmächtig sei – natürlich ein Standardargument, mit dem Skeptiker Agnostizismus und Atheismus zu begründen suchen.
Häufig hat man bei solchen Diskussionen das Gefühl, dass die Menschen, die so fragen, nur einen kleinen Teil des Ganzen sehen. Wie Lewis schreibt: Es gibt unsinnige Fragen. Könnte es sein, dass der in der Theodizeefrage postulierte Widerspruch eine von vornherein falsche Spur ist und gar nicht berücksichtigt werden sollte, weil die Frage unsinnig ist? Könnte es sein, dass Leid – obgleich nie einfach oder willkommen – erklärbar wird, wenn Gottes Plan und Absicht offenbar werden?
Eines der Puzzleteile besteht darin, zu verstehen, dass es noch vor der Ankunft des Menschen ein Reich gab, in das Geistwesen das Böse brachten. Der hebräischen Heiligen Schrift (dem sog. Alten Testament) zufolge war es eine ansonsten perfekte Welt, bis Satan (der Widersacher) und seine Anhänger sich gegen Gott stellten. Der Prophet Hesekiel beschreibt dieses Wesen, ehe es der Erzfeind wurde, wie folgt:
„Du warst das Abbild der Vollkommenheit, voller Weisheit und über die Maßen schön. In Eden warst du, im Garten Gottes. […] Du warst ein glänzender, schirmender Cherub und auf den heiligen Berg hatte ich dich gesetzt; ein Gott warst du und wandeltest inmitten der feurigen Steine. Du warst ohne Tadel in deinem Tun von dem Tage an, als du geschaffen wurdest“ (Hesekiel 28, 12-15a).
Doch dann kam ein Punkt, an dem er in eine verkehrte, konkurrenzorientierte Haltung verfiel. Er erlaubte sich den Luxus, sich eine Alternative vorzustellen, bei der er und nicht Gott der Herrscher wäre. So wurde „an dir Missetat [Sünde] gefunden“ (Vers 15b). Aggression gegen Gott und seinen Willen wurde seine Methode: „Durch deinen großen Handel wurdest du voll Frevels und hast dich versündigt. Da verstieß ich dich vom Berge Gottes und tilgte dich, du schirmender Cherub, hinweg aus der Mitte der feurigen Steine“ (Vers 16).
Diese Geisteshaltung führte zu einem Krieg gegen Gott, der ein Drittel aller Engel mit sich riss (s. Jesaja 14, 12-14; Offenbarung 12, 3-4). Das war möglich, weil Gott (auch) die Geistwesen mit einem freien Willen geschaffen hatte.
Als der Mensch die Weltbühne betrat, war das Böse also schon da, und mit ihm die Möglichkeit, dass Menschen sündigen und leiden, wenn sie sich entscheiden, es Satan nachzutun. Und sie hatten die Wahl, weil Gott auch sie mit einem freien Willen geschaffen hatte. Sie konnten wählen, ob sie dem Willen Gottes folgen oder ihn ablehnen wollten. Täten sie Letzteres, wären sie in einer Position, selbst zu entscheiden, was gut und böse ist. Wir lesen, dass sich Menschen am Anfang der Menschheitsgeschichte entschieden, ihren Weg ohne Gott zu gehen. Dies ist eine der Ursachen der Wirkung, die wir Leid nennen.
Der Apostel Paulus verstand den Zusammenhang zwischen diesen frühen Vorgängen und der Weiterentwicklung der Gesellschaft. Manchmal leiden wir wegen etwas, das andere vor uns getan haben: „[…] wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben“ (Römer 5, 12).
Mit Sicherheit erwartete Gott von den Menschen, dass sie sich für das Richtige entscheiden würden, selbst nachdem Adam und Eva ihn abgelehnt hatten und er sie aus dem Garten vertrieben hatte. Zu ihrem Sohn Kain sagte er: „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (1. Mose 4, 6-7). Das bedeutet: Wie Adam und Eva hätte auch Kain das Richtige wählen können; dann hätte er nicht eine der Folgen der Sünde tragen, d. h. leiden müssen.
Es gehört zu Gottes großem Plan, der Menschheit erkennen zu helfen, was der wahre Preis für den falschen Weg ist – wie kostspielig er ist. Das kann sie nicht lernen, wenn er jedes Mal, sobald die Folgen zum Tragen kommen, eingreift und dies verhindert – dann ist kein Zusammenhang zwischen der Sünde und ihren Folgen zu erkennen. Wenn Menschen den falschen Weg wählen, müssen sie auch die Folgen ihres Tuns spüren, um zu lernen, sich für das Richtige zu entscheiden.
Ohne solches Hintergrundwissen sind unsere Versuche, das Böse oder das Leid in einer durch einen guten Gott geschaffenen Welt zu verstehen und zu erklären, wie wenn man einen Film einschaltet, nachdem schon zwei Drittel gelaufen sind, und dann erwartet, die Handlung zu verstehen. Was dann geschieht, ist, dass man unsinnige Fragen stellt. Das Böse ist einfach nicht etwas, das von Gott kommt.
DIE FALSCHE FRAGE
Eine der Beschwerden, die Agnostiker und Atheisten vorbringen, lautet, dass Gott nicht eingreift, um böse Folgen für die Menschen zu verhindern. Doch wenn Gott die Menschen bei jeder falschen Entscheidung am Handeln hinderte, würden sie sich dann nicht wutentbrannt darüber erregen, dass er ihnen die Freiheit nimmt, zu tun, was sie wollen? Dass es innerhalb Gottes Plan, der allmählich verwirklicht wird, Entscheidungsfreiheit gibt, ist einer der Gründe dafür, dass Gott nicht automatisch eingreift, um Epidemien, Unfälle, Missbrauch oder Kriege zu verhindern.
Statt sich also darüber zu beschweren, dass Gottes nicht eingreift, wäre es besser, mit Demut davon auszugehen, dass da wahrscheinlich etwas ist, das wir aus unserer menschlichen Perspektive nicht verstehen. Diese Haltung ist im Buch Jesaja gemeint – was Gott auch in der Welt tut, welches sein Plan auch ist, unsere Antwort darauf sollte sich nach dem Folgenden richten: „Wie kehrt ihr alles um! Als ob der Ton dem Töpfer gleich wäre, dass das Werk spräche von seinem Meister: Er hat mich nicht gemacht!, und ein Bildwerk spräche von seinem Bildner: Er versteht nichts!“ (Jesaja 29, 16).
„Wie kehrt ihr alles um!“ Das bedeutet: Ihr stellt die falsche Frage. Sollten wir Gott als Schöpfer infrage stellen? Sollten wir ihn leugnen? Diesen Gedanken greift Jesaja später wieder auf: „Weh dem, der mit seinem Schöpfer hadert, eine Scherbe unter irdenen Scherben! Spricht denn der Ton zu seinem Töpfer: Was machst du?, und sein Werk: Du hast keine Hände!“ (Jesaja 45, 9).
Das Wesentliche ist hier, dass die richtige Perspektive und Demut notwendige Voraussetzungen sind, um den rechten Standpunkt für eine richtige Beziehung mit Gott einzunehmen. Die Menschen sind überwiegend desorientiert. Im Hinblick auf Gott wissen sie nicht, wo sie stehen. Sie verstehen weder ihn noch seine Absichten. So ist es kein Wunder, dass so viele zu falschen Schlüssen über das Leben und über ihn kommen.
Hiob war ein rechtschaffener Mensch, doch im Hinblick auf Gott hatte er fehlerhafte Vorstellungen. Er war ein Mann ohne Fehl und Tadel, aber seine Einsicht war unvollständig. Gott ließ zu, dass ihn der Erzfeind prüfte – ein nicht zu übersehender Faktor bei manchem Leiden –, um ihn geistlich voranzubringen (s. Hiob 1, 6-12). Am Ende des Buches stellt Gott Hiob Dutzende von Fragen, die dieser nicht beantworten kann, aber nun ist Hiob in der Lage, Gott zuzuhören. Er kann nur bereuen, als er sich selbst wirklich erkennt: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer. […] Darum hab ich unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe. […] Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“ (Hiob 42, 1-6).
Nun ist er endlich dort angekommen, wo er sein soll, und kann weit mehr gesegnet werden als zuvor.
Hiob und seine Freunde konnten auch nicht verstehen, dass Leid nicht unbedingt mit persönlicher Verfehlung zu tun haben muss, dass Gott Leiden zulässt, um einen größeren Zweck damit zu verfolgen, die charakterliche Vervollkommnung (Hiob 4, 7; 11, 14; 19, 11; Matthäus 5, 48; 1. Petrus 1, 16). Psalm 73 zeigt, dass es ein Trugschluss ist, zu denken, dem Gerechten könne es nur gut gehen und dem Bösen ginge es automatisch schlecht.
Schon der weise König Salomon erkannte: „Wiederum habe ich unter der Sonne gesehen, dass nicht dem Schnellsten der Sieg (= Preis) im Wettlauf und nicht dem Tapfersten der Sieg im Kriege zuteil wird, auch nicht den Weisen das Brot und nicht den Verständigen der Reichtum, auch nicht den Einsichtsvollen die Gunst, sondern sie sind alle von Zeit und Umständen abhängig“ (Prediger 9, 11; Menge-Übersetzung).
WAS PAULUS ZU SAGEN HAT
In Römer 9 behandelt Paulus ein Thema, das vielleicht einige seiner Landsleute plagte: Warum hatte sich Gott offenbar vom Volk Israel abgewandt und begonnen, mit Heiden zu arbeiten? Dies ist eine andere Facette der Theodizeefrage: Ist Gott gut? Ist er gerecht?
Mit den Worten des Paulus: „Ist denn Gott ungerecht? Das sei ferne! Denn er spricht zu Mose: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.« So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Römer 9, 14-16).
In dieser ausgedehnten Passage verwendet Paulus wie Jesaja vor ihm die Analogie von Ton und Töpfer: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, dass du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Gebrauch zu machen?“ (Vers 20-21).
Mit anderen Worten: Es kann offensichtlich geschehen, dass man nur einen Teil des Films kennt und ihn nicht versteht – dass man dann beginnt zu diskutieren, sich zu beschweren, unangebrachte oder unsinnige Fragen stellt und sogar gewalttätig wird.
Auch Paulus war einst so in seinem Leben. Er hatte viele Kenntnisse, aber sie bewirkten nicht viel Gutes. Im Zusammenhang mit seinem früheren Leben als gesetzestreuer Jude schreibt er über sich, „der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben“ (1. Tim. 1, 13). Über diesen Paulus – damals Saulus – berichtet Lukas: „Saulus suchte die Gemeinde zu zerstören, ging von Haus zu Haus, schleppte Männer und Frauen fort und warf sie ins Gefängnis“ (Apostelgeschichte 8, 3).
Er glaubte sich im Recht, als er Gott lästerte und grob, arrogant und gewalttätig war. Erst später sah er ein, was er damals nicht verstanden hatte. Doch Gott ließ das Leid zu, das Saulus verursachte. Und unter den Menschen, die litten, waren auch Gottes getreue Nachfolger.
Später schrieb Paulus über sein eigenes Leid – manchmal verursacht durch die gleiche Art von Verfolgung, die er selbst zuvor ausgeübt hatte: „Von den Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr unter Juden, in Gefahr unter Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, und die Sorge für alle Gemeinden“ (2. Korinther 11, 24-28).
Manchmal musste er auch leiden, weil Gott es vorzog, ihm nicht zu helfen, damit er durch seine Schwierigkeiten etwas Wichtigeres lernte: „Mir ist gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. […] Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2. Korinther 12, 7-10).
Wenn dies zutrifft, beruhte Becketts Ablehnung des Glaubens zum Teil auf einem Missverständnis, das Canon Dobbs, der Freund seiner Familie, weitergegeben hatte.
Ein klareres Bild von der Beziehung zwischen den Leiden Christi und denen der Gläubigen gibt Paulus, wenn er schreibt: „Um [Christi Jesu, meines Herrn] willen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde. […] Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten“ (Philipper 3, 8-11).
Paulus war es auch, der seinen Schülern mitteilte: „[…] Wir müssen durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen“ (Apostelgeschichte 14, 22). Das ist ein unausweichlicher Teil unserer Lebenserfahrung – auch als getreue Nachfolger Jesu Christi.
VOLLENDUNG DURCH LEIDEN
Von einem Bezug auf das Leiden Christi in C. S. Lewis’ Schriften war bereits die Rede. Er schrieb: „Ich versuche nur zu zeigen, dass die alte christliche Lehre, man werde ,durch Leiden vollendet‘, nicht unglaubhaft ist.“
Dies ist ein Verweis auf Hebräer 2, 9-10: „Den aber, der »eine kleine Zeit niedriger gewesen ist als die Engel«, Jesus, sehen wir durch das Leiden des Todes »gekrönt mit Preis und Ehre«; denn durch Gottes Gnade sollte er für alle den Tod schmecken. Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, dass er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete.“
Dies ist ein Gedanke, der den meisten, wenn nicht allen anderen Religionen fremd ist – dass wir durch Leiden vollendet werden können. Gerade dies aber bestimmte Gott für seinen eigenen Sohn.
Von Natur aus neigen wir dazu, zu sagen: „Lass mich in Ruhe mit Leid. Ich will das nicht durchmachen. Ich will nicht leiden.“ Das ist eine absolut normale menschliche Reaktion.
Auch für Christus war es nicht leicht, das vor ihm liegende Leid zu akzeptieren: „Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst! […] Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ (Matthäus 26, 39-42).
Christus musste leiden, obwohl er persönlich keine Schuld auf sich geladen hatte; durch dieses Leiden wurde er vollendet, sein Charakter wuchs über die Begrenzung der physischen Existenz hinaus. Und sein Leiden umfasste mehr als die Ereignisse, die unmittelbar zu seinem Tod und der Kreuzigung selbst führten.
Weil Christus gelitten hat, kann er Menschen jetzt eine noch größere Hilfe sein. Es kann eine Verbindung zwischen uns geben, weil wir wissen, dass er versteht und bereit ist zu helfen: „Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden“ (Hebräer 2, 18).
„Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.“
Selbst erlittenes Leid vertieft unser Verständnis für das Leiden anderer. Unverschuldetes Leid anzunehmen, hilft uns, zu verstehen, dass alle Menschen in diesem Leben von Zeit und Umständen abhängig sind, dass Leid nicht mit eigener Schuld zusammenhängen muss. Dass wir trotz gesunder Lebensweise krank werden können, zeigt, dass wir alle zerbrechlich konstruiert worden sind (2. Korinther 4, 7) und ewiges Leben nicht Teil der menschlichen Natur ist (1. Korinther 15, 50). Durch unsere Bereitschaft, Leid anzunehmen, beweisen wir, dass wir Gott nicht aus selbstsüchtigen Gründen nachfolgen – nur weil wir hoffen, dass es uns dadurch immer gut geht – eine Anklage, die der Widersacher schon gegen den Patriarchen Hiob vorbrachte (Hiob 1, 9-12). Durch die Annahme von Leid beweisen wir auch, dass wir bereit sind, einen Anteil an den Leiden Christi zu akzeptieren (Römer 8, 17). Durch die Erfahrung von Leid wird unser Charakter geformt und vervollkommnet.
Wenn man erst lange nach Beginn des menschlichen Dramas in das Geschehen eintritt, wie wir heute, und nicht weiß, was bis dahin geschah und warum, dann ist dies sicher kein Weg, um zu verstehen, welchen großen Plan und Sinn Gott durch Wesen verwirklicht, die aus Lehm gemacht sind, aber einen freien Willen und eine herrliche Zukunft haben. Wie Paulus schließt: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Römer 8, 18).
Das ist eine Wahrheit, die wir uns vor Augen halten können, wenn schwere Zeiten kommen.