Was macht uns zu Menschen?
Der folgende Essay bildet im englischen Original Kapitel 6 des 2007 erschienenen Buches mit dem Titel What Makes Us Human?, herausgegeben von Charles Pasternak. Das Buch stellt unterschiedliche Ansichten zu einem Thema zusammen, das die Menschheit seit Jahrtausenden fasziniert. Dieses Kapitel beleuchtet die Frage aus der generell übergangenen Sicht der alten Heiligen Schrift der Hebräer.
Die Frage „Was macht uns zu Menschen?“ garantiert eine Vielfalt von Antworten materialistischer und nichtmaterialistischer Wissenschaftler wie auch religiöser Denker. Eigenschaften vom Ichbewusstsein bis zum freien Willen, vom Bewusstsein bis zur Vorstellungskraft werden als das angeführt, was uns von nichtmenschlichen Lebewesen unterscheidet. Einige halten die Fähigkeit zur gesprochenen Sprache für den wichtigsten, sogar angeborenen Unterschied. Unter der Rubrik „besorgniserregend“ könnte man in diesem Zusammenhang die bewusste Entscheidung anführen, sich nicht fortzupflanzen, und noch schwerwiegender die absichtliche Erfindung von Massenvernichtungswaffen, die die Menschheit mit Ausrottung bedrohen.
Dass alle diese Merkmale mit dem menschlichen Bewusstsein zu tun haben, ist klar. Die Definition und die Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins ist es hingegen nicht. Obgleich ein US-Präsident die 1990er-Jahre zum „Jahrzehnt des Gehirns“ erklärte und versicherte, „in der Hirnforschung bricht ein neues Zeitalter an“,1 ist das Wissen um die Beziehung zwischen Gehirn und Geist wenig vorangekommen. Stephen Morse, Professor für Psychologie und Psychiatrierecht an der University of Pennsylvania, bekannte in einer Ansprache bei einer Konferenz von Neurowissenschaftlern: „Ich verrate Ihnen ein schmutziges kleines Geheimnis: Wir haben keine Ahnung, wie das Gehirn das Denken ermöglicht. Wir wissen eine Menge über den Sitz von Funktionen, wir wissen eine Menge über neurophysiologische Prozesse, aber wie das Gehirn Geisteszustände produziert – wie es bewusste, rationale Intentionalität hervorbringt –, ahnen wir nicht einmal. Wenn wir so weit kommen, wird das die biologischen Wissenschaften revolutionieren.“2
„Ich verrate Ihnen ein schmutziges kleines Geheimnis: Wir haben keine Ahnung, wie das Gehirn das Denken ermöglicht.“
Während wir auf diesen Moment warten, könnte es nützlich sein, die Frage, was uns zu Menschen macht, aus einer oft übersehenen, nichtmaterialistischen Perspektive zu betrachten. Warum ist dies in einer Zeit, in der die Seele und sogar das säkulare Ich als Erklärungsbegriffe nicht mehr in Mode sind, der Betrachtung würdig?3 Die Antwort liegt in Morses Eingeständnis, dass das Ersetzen nichtmaterieller durch materialistische Erklärungen an eigene Grenzen stößt: Das menschliche Bewusstsein (und mit ihm das Ichbewusstsein) bleibt ein Mysterium. Diese Einsicht wäre für den Hirnforscher Robert L. Kuhn nicht überraschend, der vor nahezu 40 Jahren schrieb:
„Das menschliche Gehirn kann die abgrundtiefe Kluft zwischen den vollkommen einzigartigen Merkmalen von Menschen und den repetitiven Instinkten von Tieren nicht erklären.
Daher muss etwas Nichtphysisches hinzukommen, das sich mit dem menschlichen Gehirn vereint und es zum menschlichen Geist macht.
. . . Das menschliche Gehirn kann den menschlichen Geist nicht erklären – es muss ein nichtphysisches Element vorhanden sein, das sich unseren Mikroskopen, Retorten, Elektroden und Computern entzieht. Für den wirklich offen denkenden Menschen ist es fruchtlos, die Einzigartigkeit des Geistes physisch rationalisieren zu wollen. Es muss einen nichtphysischen Wesenskern geben – einen ,Geist‘ im Menschen.
. . . Evolutionstheoretiker suchen ihre Ansichten auf die Ähnlichkeit der Gehirne von Menschen und Menschenaffen zu stützen. Ironischerweise sind sie in Wirklichkeit über die bedeutendste wissenschaftliche Beobachtung der Geschichte gestolpert, den unwiderlegbaren Nachweis der nichtphysischen Komponente, durch die die Leistung des menschlichen Gehirns zu Geist wird. Ohne diesen nichtphysischen Faktor könnte der Mensch nichts weiter sein als ein Super-Affe, im gleichen Maße intelligenter als der Schimpanse, wie dieser intelligenter ist als ein weniger komplexes Säugetier.“4
Der Erkenntnistheoretiker John Searle hat erklärt, angesichts der Uneinigkeit zum Thema Bewusstsein seien ihm Diskussionsbeiträge aus allen Perspektiven einschließlich der nichtmaterialistischen willkommen, um die Suche nach einer Erklärung voranzubringen.5 So könnte es hilfreich sein, in der Weisheit der Vergangenheit nach Antworten einer anderen Art zu forschen. Hiermit ist keine Wiederholung dessen gemeint, was in der westlichen Welt zur gängigen religiösen Definition des Menschen geworden ist – Leib und Seele –, sondern vielmehr eine Untersuchung der weitgehend in Vergessenheit geratenen Weisheit der alten Hebräer. Dabei stoßen wir vielleicht auf eine alternative Erklärung, die unseren gegenwärtigen Bemühungen weiterhelfen könnte.
LEIB UND SEELE DER GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE
Vor einer näheren Betrachtung der frühen hebräischen Sichtweise ist es hilfreich, dem Ursprung der Begriffe „Seele“ und „Ich“ nachzugehen. In einer jüngst veröffentlichen Untersuchung der personalen Identität in der Geistesgeschichte erinnern uns die Professoren Raymond Martin und John Barresi:
„Was Pythagoras und Empedokles wohl teilten und bei späteren Denkern förderten, war der Glaube an eine Seele (oder ein Ich), die vor dem Körper existierte, die dazu gebracht werden konnte, den Körper zu verlassen, selbst während dieser weiterlebte, und die den Körper überlebte.
Diese Vorstellungen waren von enormer Tragweite. Direkt oder indirekt hatten sie offenbar einen gewaltigen Einfluss auf Platon und über Platon auf mehrere Kirchenväter, darunter Augustinus; über Augustinus auf die christliche Theologie und über das Christentum auf das gesamte religiöse, aber auch weltliche Denken des Abendlandes. Es ist vielleicht eine Ironie, dass Vorstellungen, die mit der Zeit einen so eindrucksvollen rationalen „Stammbaum“ bekamen, möglicherweise dem dunklen Herzen des Schamanismus mit seiner Bindung an das Magisch-Okkulte entstammen.“6
„Direkt oder indirekt hatten sie offenbar einen gewaltigen Einfluss auf Platon und über Platon auf mehrere Kirchenväter, darunter Augustinus; über Augustinus auf die christliche Theologie und über das Christentum auf das gesamte religiöse, aber auch weltliche Denken des Abendlandes.“
Dies ist eine weitreichende These, die es verdient, ernsthaft bedacht zu werden: dass unser gesamtes abendländisches Denken, religiös, aber auch weltlich, in der Frage unseres Selbstverständnisses vielleicht nicht einem rationalen Prozess entstammt, sondern Vorstellungen aus dem Reich des Magischen und Okkulten. Genauer gesagt, es ist faszinierend, dass die Denker, die als Begründer der abendländischen Kultur gelten – der religiösen, aber auch der weltlichen –, Vorstellungen so dubioser Herkunft übernommen haben könnten.
Wie steht es nun mit der aus anderer Quelle gespeisten hebräischen Überlieferung zu den Fragen nach Bewusstsein, Ich-Bewusstsein und menschlicher Einzigartigkeit? Die folgende Erörterung bietet die Möglichkeit, die Unterschiede zwischen dem griechischen und dem hebräischen Denken in dieser Frage zu klären und die häufig missverstandene biblische Überlieferung zu untersuchen.
„DENN STAUB BIST DU . . .“
In einer anderen Quelle über Ursprünge oder Anfänge – dem Buch Genesis (1. Buch Mose) – wird der Leser aufgefordert, sich auf eine ganz andere Sichtweise einzulassen.7 In dem Schöpfungsbericht des zweiten Kapitels erfahren wir: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“ (1. Mose 2, 7; Einheitsübersetzung).8 Dies weicht ab von der ursprünglichen Übersetzung Luthers, der das hebräische nephesch nicht als „lebendiges Wesen“, sondern als „lebendige Seele“ wiedergab. Im Lateinischen wäre anima vom griechischen anemos („Luft“ oder „Hauch“) eine bessere Wahl gewesen.9 Doch in der ursprünglichen Übersetzung dieses Verses durch Luther zeigt sich der Einfluss der antiken griechischen Philosophen und ihrer geistigen Nachkommen, der frühen Kirchenväter, für die die Seele der wesentliche Teil des Menschen war. Irenäus schreibt zum Beispiel: „. . . Daher spricht das prophetische Wort von dem ersten Menschen: ,Er wurde zur lebendigen Seele‘, indem es uns lehrte, daß die Seele erst durch die Teilnahme am Leben lebendig wurde; denn etwas anderes ist die Seele und etwas anderes das ihr verliehene Leben.“10
Obgleich viele moderne deutsche Übersetzungen den Begriff „lebendiges Wesen“ oder „lebendes Wesen“ verwenden, gibt es einige, die nicht geneigt scheinen, sich von der antiken griechischen Vorstellung der unsterblichen Seele zu lösen. Die revidierte Elberfelder-Übersetzung schreibt: „– da bildete Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele“.11 Bedauerlicherweise kann die „Seele“ jedes Menschen (selbst eines Übersetzers!) im Hebräischen nie etwas anderes sein als stofflich, materiell. Doch die Verfügbarkeit genauerer moderner Übersetzungen hat nicht notwendigerweise Veränderungen der althergebrachten Lehre oder des Volksglaubens zur Folge. Die Seele als das Unsterbliche ist nicht aus dem theologischen Diskurs, der liturgischen Praxis oder der alltäglichen Vorstellung verschwunden.12
„Der Mensch ist kein Amalgam aus sterblichem Leib und unsterblicher Seele, sondern eine psychophysische (leib-seelische) Einheit, deren Leben selbst von Gott abhängt.“
Ein Gelehrter, der eine andere Meinung vertritt, ist Jon D. Levenson, der für The Jewish Study Bible die Genesis kommentiert hat. Über Kapitel 2, 7 schreibt er: „Der Mensch ist kein Amalgam aus sterblichem Leib und unsterblicher Seele, sondern eine psychophysische Einheit, deren Leben selbst von Gott abhängt.“13 Was meint er mit „eine psychophysische Einheit“, die „kein Amalgam aus sterblichem Leib und unsterblicher Seele“ ist? Des Weiteren, steht diese Terminologie in Einklang mit dem Rest der Hebräischen Schriften, und wird sie in den apostolischen Schriften der frühen Nachfolger Jesu fortgeführt? Indem er diese Einheit der antiken griechischen bzw. traditionell christlichen Auffassung vom Menschen mit einem temporären Körper plus einer ewig lebenden Seele entgegenstellt, lenkt Levenson die Aufmerksamkeit auf ein Wesen, das, obwohl es körperlich ist, auch eine geistige Komponente hat. Und nach seiner Definition sind beide Aspekte zeitlich begrenzt. Wie gesagt, dies ist weit entfernt von Pythagoras, Empedokles, Platon, Augustinus, mehreren Kirchenvätern, dem traditionellen Christentum und dem gesamten Weltbild des Abendlandes, sei es religiös oder weltlich.
Verfolgt man diese hebräische Begriffsbildung weiter zurück, so findet sich im Buch Hiob, das bereits in der patriarchalischen Zeit entstand (etwa 2100-1900 v.Chr.),14 eine Passage über den psychologischen Teil dieses Ganzen. Einer der Berater des leidenden Mannes erklärt: „Aber der Geist ist es in den Menschen und der Odem des Allmächtigen, der sie verständig macht“ (Hiob 32, 8).15 Hier ist eine offensichtliche Verbindung mit 1. Mose 2, 7 erkennbar, doch nun wird der psychologische oder geistige Teil des psychophysischen Ganzen als „der Geist in den Menschen“ bezeichnet. Die Funktion dieses Geistes im Menschen, der von Gott kommt, ist es, den Menschen zum Verstehen zu befähigen.
„. . . UND ZU STAUB SOLLST DU WIEDER WERDEN“
Bis hierher haben wir einen nichtstofflichen, sich selbst bewussten, zu geistiger Erkenntnis befähigenden, im Physischen eingebundenen Aspekt im menschlichen Wesen festgestellt, der mit dem Tod endet. Bestätigt wird dies im Buch der Psalmen, wo wir lesen: „Denn des Menschen Geist muß davon, und er muß wieder zu Erde werden; dann sind verloren alle seine Pläne“ (146, 4),16 und im hebräischen Weisheitsbuch Ekklesiastes (Prediger): „Denn die Lebenden wissen, daß sie sterben werden [Ich-Bewusstsein], die Toten aber wissen nichts [kein Bewusstsein nach dem Tode]; sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Andenken ist vergessen. Ihr Lieben und ihr Hassen und ihr Eifern ist längst dahin“ (Prediger 9, 5-6a).17
Salomo, der wahrscheinlich im 10. Jahrhundert v.Chr. das Buch Prediger schrieb, erklärt, dass Menschen und Tiere das gleiche Schicksal erwartet: „Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er“ (3, 19).18 Was wird dann beim Tod aus diesem einzigartigen Geist im Menschen? Er schreibt: „Der Staub muß wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat“ (12, 7).19
Aus dieser hebräischen Perspektive gibt es also keine unsterbliche Seele und auch keinen unsterblichen „Geist in den Menschen“. Der Leib verwest, und der Geist kehrt zurück zu Gott.
The Jewish Encyclopedia bestätigt: „Die Vorstellung, dass die Seele nach der Auflösung des Körpers weiter existiert, ist eher eine Frage philosophischer oder theologischer Spekulation als des schlichten Glaubens, und dementsprechend wird sie in der Heiligen Schrift nirgends ausdrücklich gelehrt.“20
Trotz der scheinbaren Endgültigkeit des Todes für die psychophysische (leib-seelische) Einheit wurde die Beendigung des Lebens von den alten Hebräern als vorübergehend angesehen – eine Art Schlaf. Später werde eine Zeit des Erwachens kommen; dann werde der Leib wiederhergestellt und der Geist wiederbelebt. Diese Auferstehung zu neuem Leben ist zweifach: körperlich und nichtkörperlich. Der Prophet Hesekiel spricht von einer Auferstehung körperlicher Menschen zu körperlichem Leben: „So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, daß ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, daß ich der HERR bin“ (37, 5-6).21 Der Prophet Daniel schreibt über Menschen, die auferweckt werden, um zu leben oder für immer zu sterben: „Und viele, die unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande“ (12, 2).22 Dem Propheten selbst wird gesagt: „Du aber, Daniel, geh hin [stirb], bis das Ende kommt, und ruhe, bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage“ (12, 13).23 Doch keine dieser Passagen spricht über eine unsterbliche Seele, nur über die Auferstehung zuvor körperlicher Menschen, die für eine gewisse Zeit aufgehört haben zu existieren.
PAULUS IM GEIST DER HEBRÄISCHEN TRADITION
Die Vorstellung vom Geist im Menschen und von der Auferstehung kehrt auch in den Apostolischen Schriften wieder, im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth. Paulus, ein hellenistischer Jude, der sich selbst als „Hebräer der Hebräer“ bezeichnet, schreibt an Menschen in einer Welt, die von griechischer Philosophie beherrscht ist: „Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als allein der Geist des Menschen, der in ihm ist?“ (1. Korinther 2, 11a).24 Nur durch den nichtstofflichen, einzigartigen menschlichen Geist gewinnt der Mensch Einsicht über das Menschliche. Als hebräischer Gelehrter, der jede Anlehnung an griechische Denker meidet, wiederholt Paulus einfach die historische hebräische Vorstellung von einer stofflich-geistigen psychophysischen Einheit des Menschen.
Allein hieraus ließe sich ableiten, dass sich der Mensch laut Paulus durch den Geist im Menschen von den anderen Lebewesen unterscheidet – doch gibt es in seinen Schriften weitere Belege für die menschliche Einzigartigkeit?
Selbstverständlich kannte Paulus die Schöpfungsgeschichte der Genesis, in der jede Lebensform durch ihre einzigartige Identität von den anderen unterschieden wird – ihre „Art“. Pflanzen sind von anderer Art als Vögel und Fische; diese wiederum unterscheiden sich voneinander sowie von Säugetieren und Reptilien. Und jede dieser Arten ist anders als der Mensch. Paulus bestätigt diese Auffassung mit den Worten: „Nicht alles Fleisch ist das gleiche Fleisch, sondern ein anderes Fleisch haben die Menschen, ein anderes das Vieh, ein anderes die Vögel, ein anderes die Fische“ (1. Korinther 15, 39).25 Für Paulus war die menschliche Einzigartigkeit also auf mindestens zwei Ebenen offensichtlich: der geistigen und der körperlichen – Levensons psychophysischer Einheit.
Wie verstand Paulus den Tod? Wie erwartet, hält er sich als hebräischer Gelehrter an die mittlerweile vertraute Tradition. Auch wenn einige der Nachfolger Jesu „entschlafen sind“, schreibt er: „… zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen“ (1. Thessalonicher 4, 13, 16).26 In Kapitel 15 seines ersten Briefes an die Gemeinde von Korinth erklärt er, dass das psychophysische Wesen aufhört zu sein, doch dass es noch eine künftige Auferstehung durch die Hilfe von Jesus Christus gibt: „Wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“27 Er beruft sich auf 1. Mose 2, 7, wenn er schreibt: „Der erste Mensch, Adam, »wurde zu einem lebendigen Wesen«“, und er gibt auch die der Auferstehung zugrunde liegende Kraft an: „und der letzte Adam [Christus] zum Geist, der lebendig macht“28. Das griechische Wort für „lebendiges Wesen“ ist psyche – das entspricht dem hebräischen nephesch; – „der Geist, der lebendig macht“, ist dagegen pneuma, die Entsprechung des hebräischen ruach. Auch hier deutet nichts darauf hin, dass Paulus die platonische Vorstellung einer unsterblichen Seele akzeptierte.
Aus dieser hebräischen Sicht ist das, was den Menschen einzigartig macht, die nichtstoffliche Komponente, „der Geist im Menschen“. Dieser Geist im Menschen ist es, der unseren auffallenden Unterschieden zu allen anderen Arten zugrunde liegen muss. Zwar kann man durchaus einräumen, dass auch andere Lebewesen – von Säugetieren über Vögel und Reptilien bis zu Insekten usw. – ein gewisses Bewusstsein aufweisen, doch finden sich bei anderen Arten nur schwerlich Anzeichen für Humor oder Ekstase, freien Willen oder bewusste selbstaufopfernde Liebe. Die alte hebräische Tradition wusste den Unterschied zwischen Menschen und den am nächsten verwandten Säugetieren im Hinblick auf die Größe und Komplexität des Gehirns nur durch den Verweis auf einen nichtstofflichen Geist zu erklären, der es ermöglicht, dass dieses quantitativ ähnliche Gehirn einen enormen qualitativen Unterschied hervorbringt.
Nach den Worten über den einzigartigen Geist im Menschen schreibt Paulus den Korinthern: „… So weiß auch niemand, was in Gott ist, als allein der Geist Gottes“ (1. Korinther 2, 11).29 Im folgenden Vers spricht er davon, dass die Nachfolger Jesu in Korinth denselben Geist empfangen haben, „… daß wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist.“ Hier ist nun die Möglichkeit eines weiteren nichtstofflichen, einzigartigen Aspekts des menschlichen Gehirns. In einem späteren Brief, den er an die Römer richtet, schreibt er, dass der Geist im Menschen mit diesem Geist Gottes in Verbindung treten kann: „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind“ (Römer 8, 16).30
DIE WISSENSCHAFT VOM UMDENKEN
Schließlich sei als Kommentar zu der aktuellen Diskussion darüber, was uns als Menschen ausmacht, auf einen dabei selten erwähnten Aspekt des menschlichen Verhaltens hingewiesen. Ein Teil unserer Einzigartigkeit betrifft die Fähigkeit, Reue zu zeigen und uns radikal zum Besseren zu wandeln. Wir sind nicht irreversibel durch unsere Gene oder unsere frühkindliche Umgebung programmiert. Wir können durch bewusstes, willentliches Denken, das zum Handeln führt, etwas an unserem Leben ändern. Auch hier gibt es einen Zusammenhang mit dem alten hebräischen Denken, wie wir sehen werden.
Viele Jahre lang meinten Forscher, das Gehirn sei schon bei der Geburt fest verdrahtet, seine Entwicklung von der Geburt bis zum Heranwachsen sei eine allmähliche Entfaltung seines bereits vorhandenen Potenzials, und im Erwachsenenalter sei diese dann abgeschlossen. Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass die Schaltkreise des Gehirns während der Entwicklung der Person verdrahtet werden und durch bewusstes Denken neu verdrahtet werden können. Dank der Neuroplastizität des Gehirns können wir unsere Denk- und Verhaltensmuster durch selbstbestimmtes Wollen ändern. Der körperliche Aspekt dieses Wandels ist anhand von Veränderungen der neuronalen Bahnen im Gehirn beobachtbar. Diese neuen Schaltkreise können frühere Bahnen ersetzen und fest werden.
Die ersten Ahnungen in Bezug auf dieses Phänomen brachte die Behandlung von Schlaganfallpatienten und Patienten mit Zwangsstörungen. Bestimmte Patienten, deren Schaltkreise im Gehirn durch Hirnblutungen geschädigt worden waren, sodass sie bestimmte Fähigkeiten verloren hatten, konnten diese erneut lernen. Die Schaltkreise in ihrem Gehirn wurden um den jeweils geschädigten Bereich herum neu verlegt. Hierzu war intensives Training erforderlich, doch es bewirkte positive und dauerhafte Veränderungen. Den Patienten mit Zwangsstörungen (z.B. Händewaschzwang aus Angst vor Bakterien) konnte geholfen werden, wenn sie verstanden, dass ein Teil ihrer Schaltkreise im Gehirn das Problem verursachte. Sie lernten eine Technik, ihren eigenen freien Willen einzusetzen, um ihre fehlerhaften Schaltkreise neu zu verlegen.
Selbstverständlich sind derartige Durchbrüche auch bei anderen Störungen der geistigen Fähigkeiten und des Verhaltens vonnöten. Die neuen Erkenntnisse sind von großer Tragweite für eine Besserung der schwierigsten und heikelsten menschlichen Probleme, von Depressionen über Süchte aller Art bis hin zu innerstaatlich oder zwischenstaatlich festgefahrenen Situationen. Schwer Depressiven kann mit einem Programm geholfen werden, bei dem sie lernen zu erkennen, was in ihrem Gehirn vor sich geht, und in geeigneter Weise aus eigenem Antrieb oder eigenverantwortlich zu handeln. Andere Ergebnisse betreffen die Möglichkeit für Pornografiesüchtige, den eigenen Willen einzusetzen, um die sexuelle Reaktion zu unterbinden.
Zu diesen neuen Erkenntnissen gibt es eine nichtstoffliche, geistige Parallele. Dass hinter stofflichen Veränderungen im Gehirn nichtstoffliche Prinzipien stehen, ist klar, wenn wir an das alte hebräische Verb schub denken, das „umkehren“ bedeutet. Eine seiner Nebenbedeutungen ist, falsche Taten zu bereuen und sich vom Bösen abzuwenden. Das Wort spricht zwei Aspekte der Reue an: sich vom Bösen abzuwenden, umzukehren und dem Guten zuzuwenden. Das bedeutet, zurückzugehen, um den richtigen Weg wiederzufinden.
Im Fall der alten Israeliten wollte Gott, dass sie umkehrten, indem sie zuerst umdachten. Ein theologisches Wörterbuch führt über schub weiter aus: „Durch die Umkehr, eine von Gott gegebene Fähigkeit, kann ein Sünder sein Schicksal neu ausrichten.“31 Sünde lässt sich ganz allgemein als etwas definieren, das unsere Beziehung zu Gott oder Menschen (auch uns selbst) schädigt. Wenn die Schaltkreise des Gehirns fehlerhaft sind, entweder weil sie beschädigt wurden oder aufgrund bewusster Entscheidungen, hat dies böse Folgen. Umdenken oder Neuverdrahtung ist der einzige Weg nach vorn, der Weg zu körperlicher und seelischer Gesundheit. Mit anderen Worten: Geistige und körperliche Aktivitäten, die uns, unseren Mitmenschen und unserer Beziehung zu Gott schaden, sind böse. Wir müssen sie ändern, erst auf der Ebene des Denkens, durch den Willen, Gutes zu tun. Man könnte auch sagen, Sünde ist überwindbar durch einen Wandel auf der bewussten Ebene des Geistes, wenn der Wille eingesetzt wird.
Die griechische Entsprechung von schub in den Apostolischen Schriften ist metanoeo. Der Begriff inkludiert das Konzept des Umdenkens oder zu einem neuen Denken zu gelangen. Was wir erst seit Kurzem verstehen, ist die Rolle des Gehirns bei diesem Prozess. Wenn die bewusste Absicht da ist, sich zu ändern, und das entsprechende Handeln folgt, werden neue neuronale Bahnen gebildet; die Folge sind neue Einstellungen und Verhaltensweisen. Je mehr wir das neue Verhalten üben, desto dauerhafter wird es. Ahnungen von der Neuverdrahtung des Gehirns und der möglichen Änderung unseres Verhaltens gab es schon früher: Einer gängigen Regel zufolge dauert es drei Wochen, sich etwas abzugewöhnen und sich etwas Neues anzugewöhnen. Wir wissen auch, dass unser Gewissen abstumpft, wenn wir regelmäßig schädliche oder böse Dinge tun, und dass das Böse dann allmählich von uns akzeptiert wird. Der Ausweg aus so unterschiedlichen menschlichen Problemen wie Zwangsstörungen, schlechten Angewohnheiten, Rassenvorurteilen, Verbrechen aus Hass, Depressionen, Brutalität und Ausbeutung anderer ist und bleibt ein grundlegendes Umdenken. Die Hebräischen Schriften und die Apostolischen Schriften haben das im Prinzip schon immer gesagt.
Dieselbe Tradition spricht von Reue als einem In-sich-Gehen und einer Veränderung unseres Handelns, sodass der Wandel von Dauer ist. Laut dem Hirnforscher Jeffrey Schwartz, dessen therapeutische Technik zur Behandlung von Zwangsstörungen32 dem biblischen Begriff der Reue sehr ähnlich ist, „kann man keine vertrauensvollen Beziehungen mit anderen entwickeln, ohne Fehler zuzugeben, ohne Aufrichtigkeit. Und Reue ist eigentlich, wenn man sie genau betrachtet, eine Form der Aufrichtigkeit. Sie bedeutet zu sagen: ,Ich sehe ein, dass ich Fehler gemacht habe. Ich bin nicht vollkommen. Ich könnte versuchen, bestimmte Dinge besser zu machen‘.“33
Was macht den Menschen einzigartig? Aus der Sicht der alten Hebräer ist es der Geist im Menschen, der Geist Gottes und die Fähigkeit, sich durch eigenverantwortliches, bewusstes, willentliches Handeln zum Besseren zu wandeln.