Juda, Josef und Jakob
VORIGES LESEN
(TEIL 6)
ZUR SERIE
Wir setzen unsere Betrachtung der Genesis in Kapitel 38 fort, einem Einschub innerhalb der Geschichte Josefs. Nachdem dessen Brüder ihn in die ägyptische Sklaverei verkauft hatten, sahen sie ihn etwa 22 Jahre nicht mehr. Der eine, der den Handel vorgeschlagen hatte, machte sich auf gewisse Weise selbst zum Sklaven. Juda verließ das Bergland, zog hinab in die flache Küstenregion und lebte dort unter den Einheimischen. Er heiratete eine Kanaaniterin (1. Mose 38, 1-2) und hatte mit ihr die drei Söhne Er, Onan und Schela. Der Bericht über Judas Leben fern von seinem Vater und seinen Brüdern deckt den größten Teil der Jahre bis zum Wiedersehen mit Josef ab.
In der kurz skizzierten Geschichte der Familie Judas berichtet die Genesis, dass sein Erstgeborener Er die Kanaaniterin Tamar heiratete. Wie andere in Jakobs Familie geriet auch Er immer wieder in Konflikt mit der Moral. Er war ein so böser Mensch, dass Jahwe ihn sterben ließ. Seine kinderlose Witwe sollte nach dem Gesetz der „Schwagerehe“ Onans Frau werden und dadurch Kinder bekommen, die Ers Erben gewesen wären. Doch Onan erwies sich als unfähig zu dieser Art Fürsorge: Er schlief offenbar gern mit Tamar (die Verbform deutet auf wiederholten Verkehr hin), praktizierte aber den coitus interruptus, „dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe“ (Vers 9). Für diese Verweigerung nahm Gott auch ihm das Leben.
„Hier [in der Genesis] mehr als irgendwo sonst liegt die Betonung auf persönlichen Beziehungen, und hier werden die Themen Feindschaft, Missgunst, Entfremdung und Versöhnung in all ihrer Tiefe und ihrem Pathos ausgelotet.“
Da wies Juda seine Schwiegertochter an, in ihr Elternhaus zurückzugehen, bis sein dritter Sohn heiratsfähig wäre. Das Problem war, dass er nie vorhatte, ihr Schela zum Mann zu geben, denn er dachte, dass dieser Sohn dann auch sterben könnte. Für diese Hinterlist ließ Tamar ihn bezahlen, indem sie sich als Prostituierte verkleidete und den inzwischen verwitweten Juda dazu verführte, mit ihr ein Kind zu zeugen. Als er erfuhr, dass seine Schwiegertochter durch Hurerei schwanger geworden war, forderte er – nicht ahnend, dass er selbst der Vater war –, sie zu verbrennen (Vers 24). Tamar legte offen, was sich zugetragen hatte, und Juda war ehrlich genug, zu gestehen, dass er der Übeltäter, der Betrüger war. Tamar brachte Zwillinge zur Welt, Perez und Serach. Perez wurde ein Stammvater des israelitischen Königs David (Rut 4, 18-22) und Jesu Christi (Matthäus 1, 3-16).
Dieser Einschub in der Geschichte Josefs dient dem Zweck, Judas Reue und seine (im Gegensatz zu Ruben) unveränderte Stellung in der Abstammungslinie Jakobs zu dokumentieren – trotz seiner üblen Entscheidungen, Josef zu verkaufen und ihren Vater zu täuschen. Zudem bietet der Einschub einen Kontrast gegenüber dem rechtschaffenen Josef, der sexuellen Avancen inzwischen erfolgreich widerstanden hatte.
AUFSTIEG UND RÜCKSCHLÄGE
In Ägypten war Josef auf einem vielversprechenden Weg. Wir lesen, dass Jahwe mit Josef war, wie zuvor mit den Patriarchen (1. Mose 39, 2, 3, 21, 23). Potifar, der Kommandant der Leibwache des Pharao, hatte ihn den ismaelitischen Händlern abgekauft. Mit immer verantwortungsvolleren Aufgaben betraut, schien Josef ein gemachter Mann, bis die Frau seines Herrn auf sein gutes Aussehen aufmerksam wurde und mehrfach versuchte, ihn zu verführen. Doch Josef wusste, dass es ein Unrecht wäre, ihr nachzugeben. Er bewies, dass er das göttliche Moralgesetz kannte, schon lange vor der Kodifizierung der Zehn Gebote zur Zeit Moses, als er zu ihr sagte: „Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?“ (Vers 9) Doch sie bedrängte ihn weiter. Auf seine endgültige Verweigerung hin entriss sie ihm sein Obergewand und zeigte es hasserfüllt als Beweis dafür vor, dass er versucht habe, sie zu vergewaltigen. Hierfür ließ Potifar Josef ins Gefängnis bringen. Gott schenkte ihm eine gute Beziehung mit dem Gefängnisverwalter (Vers 21-23), aber bis zu seiner Entlassung vergingen noch etliche Jahre.
In der Zwischenzeit kamen zwei hochrangige neue Gefangene dazu: der Mundschenk und der Bäcker des Pharao. Potifar wies ihnen Josef als Diener zu (40, 4). Josef konnte ihre Träume deuten und bat den Mundschenk, wenn er freikäme, beim Pharao für ihn zu sprechen. Doch Josef wurde enttäuscht. Der Bäcker wurde hingerichtet, und der Mundschenk hatte den Mann, der seinen Traum gedeutet hatte, schnell vergessen (Vers 23).
Josef musste noch zwei Jahre im Gefängnis ausharren, bis er Gelegenheit erhielt, zwei Träume von viel größerer Tragweite zu deuten. Dieses Mal hatte der Pharao selbst geträumt. Er sah sieben gesunde Kühe von einem Fluss heraufkommen, um auf einer Weide zu grasen. Danach kamen sieben hässliche, magere Kühe und verschlangen die gesunden Kühe. In seinem zweiten Traum sah der Pharao sieben gesunde Ähren an einem Halm, die von sieben dünnen, versengten Ähren verschlungen wurden. Er fragte seine Magier und Berater nach der Deutung dieser beunruhigenden Bilder, doch er bekam keine befriedigende Antwort. Da erinnerte sich der Mundschenk daran, was er Josef versprochen hatte, und berichtete dem Pharao von dem jungen Mann, der Träume deuten konnte. Der König ließ Josef holen und hörte, dass diese Fähigkeit nicht von ihm selbst kam: „Josef antwortete dem Pharao und sprach: ,Das steht nicht bei mir; Gott wird jedoch dem Pharao Gutes verkünden.‘“ (41, 16) Da ergänzte der König den ersten Traum mit weiteren Einzelheiten und erklärte, dass der Fluss der Nil war, dass die ersten Kühe schön und fett gewesen waren, die anderen mager und so hässlich, wie er in Ägypten noch nie welche gesehen hatte. Doch als die ausgemergelten Kühe die gesunden verschlungen hatten, wurde ihr Aussehen nicht besser. Dann wiederholte er fast wörtlich den zweiten Traum.
„Es ist nicht überliefert, dass Gott direkt zu Josef sprach wie zu Abraham, Isaak und Jakob. Doch Josef hatte Gottvertrauen, denn er glaubte an das Wort Gottes, das von Abraham an Isaak und Jakob weitergegeben worden war.“
Josef erklärte, dass beide Träume die gleiche Bedeutung hatten: Sie sagten für Ägypten und die umliegenden Länder sieben reiche Jahre und sieben Hungerjahre voraus (Vers 25-32). Er riet dem Pharao, einen Bevollmächtigten einzusetzen, der die Einlagerung von Vorräten in die Kornhäuser der Städte beaufsichtigen sollte – 20 Prozent der Ernte in jedem der sieben reichen Jahre. Unter der Kontrolle des Pharao könnte das Volk davon in der Hungersnot ernährt werden.
Daraufhin ernannte der ägyptische König den dreißigjährigen Josef zu seinem Wesir oder Premierminister, um die Versorgung für die Hungersnot zu beaufsichtigen: „Mit diesen Worten zog er seinen Siegelring vom Finger und steckte ihn Josef an. Dann ließ er ihn in feinstes Leinen kleiden und legte ihm eine goldene Halskette um. Er ließ ihn den Wagen besteigen, der für den Stellvertreter des Königs bestimmt war, und die Läufer, die vor ihm her den Weg bahnten, riefen den Leuten zu: ,Werft euch nieder!‘ So machte der Pharao Josef zum Herrn über ganz Ägypten.“ (Vers 42-43)
BRUCH MIT DER VERGANGENHEIT?
Auf den ersten Blick ist es merkwürdig, dass Josef mit seinem Vater keinen Kontakt aufnahm, nachdem er in Ägypten eine Machtposition erlangt hatte. Doch bei genauerer Betrachtung lässt sich vielleicht eine vernünftige Erklärung finden. Möglicherweise kam Josef zu der Überzeugung, Jakob habe ihn unnötig dem Groll der Brüder ausgesetzt, als er ihn ausschickte, sie bei ihren Herden in der Nähe von Sichem zu suchen (1. Mose 37, 12-14), weil er zornig über Josefs Traum war, er werde einen höheren Rang erreichen als sein Vater, seine Mutter und seine Brüder (Vers 9-11). Diese hatten daraufhin verabredet, den Jungen zu töten, ihn dann aber stattdessen in die Sklaverei verkauft. Vielleicht kam Josef zu dem Schluss, der Vater sei unversöhnlich in seinem Zorn gegen ihn – so wie gegen Simeon und Levi nach ihrem Überfall auf Sichem (34, 30; 49, 5-7) und gegen Ruben, nachdem dieser mit Jakobs Nebenfrau geschlafen hatte (35, 22; 49, 4).
Es ist vielleicht ein Zeichen für Josefs Gefühl, er sei aufgegeben worden, dass er in ein neues Leben und eine neue Identität in Ägypten hineinwuchs; der Pharao verlieh ihm sogar einen neuen Namen, Zafenat-Paneach („Gott spricht – er lebt“), und gab ihm die Ägypterin Asenat zur Frau, mit der er die Söhne Manasse und Ephraim hatte. Über den hebräischen Namen des Erstgeborenen sagte er: „denn Gott [...] hat mich vergessen lassen all mein Unglück und mein ganzes Vaterhaus“; und über den des zweiten Sohnes: „denn Gott [...] hat mich wachsen lassen in dem Lande meines Elends“ (41, 51-52). Dies zeigt, dass Josef weiterhin dem Gott seines Vaters anhing, trotz seiner Ehe mit der Tochter eines Sonnenanbeters, des Priesters von On.
JOSEFS LIST
Als die Hungersnot ausbrach, schickte der Pharao sein Volk zu Josef, um Getreide zu kaufen. Weil die umliegenden Länder ebenso betroffen waren, begannen Besucher nach Ägypten zu kommen, um sich mit Getreide zu versorgen. Diese Entwicklung führte dazu, dass Josef und seine Brüder 20 oder mehr Jahre nach ihrer letzten Begegnung wieder in Kontakt kamen. Jakob sandte zehn seiner Söhne nach Ägypten, um Getreide zu beschaffen; nur Josefs jüngeren Bruder Benjamin behielt er bei sich (42, 1-4). Sicher fürchtete er, den Sohn mit Rahel, der ihm noch geblieben war, auch zu verlieren.
Als die Brüder eintrafen, erkannte Josef sie, gab sich selbst aber nicht zu erkennen. Ohne es zu wissen, erfüllten sie die Prophezeiung seines Traums, der solche Probleme in der Familie verursacht hatte, und verneigten sich vor ihm. Daraufhin fragte er, woher sie kämen, und beschuldigte sie, sie seien Spione. Das wiesen sie von sich – sie seien ehrliche Leute und gehörten einer Familie mit zwölf Söhnen an; ihr Vater lebe in Kanaan. Der jüngste Bruder sei bei seinem Vater, und ein Sohn sei gestorben. Josef gab vor, ihnen nicht zu glauben, und hielt sie drei Tage lang im Gefängnis fest. Dann bot er an, ihnen Getreide zu geben, das sie nach Hause bringen konnten; doch er werde einen Bruder als Pfand bei sich behalten, bis sie mit ihrem jüngsten Bruder zurückkämen, um ihre Geschichte zu beweisen.
Sofort mussten sie daran denken, was sie Josef angetan hatten. Niedergeschmettert ob ihrer Schuld erinnerten sie sich daran, wie ihr Bruder um Erbarmen gefleht hatte: „Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns.“ (Vers 21) Besonders verzweifelt war Ruben, der Erstgeborene, der versucht hatte, seine Brüder von ihrem Vorhaben abzubringen (Vers 22; 37, 21-22).
Josef hörte alles mit – die Brüder dachten, er verstünde kein Hebräisch, da er über einen Dolmetscher mit ihnen sprach (42, 23). Dann entschied er, dass Simeon, der Zweitälteste, in Ägypten bleiben musste. Die anderen schickte er mit ihrem Getreide fort, und heimlich steckte er das Geld, das sie dafür bezahlt hatten, in ihre Säcke. Als sie wieder in Kanaan waren und das feststellten, erschraken sie, und ihr Vater ebenso.
Dass er Josef verloren hatte, Simeon als Geisel in Ägypten war und Benjamin mit ihnen dorthin zurückgehen sollte, war zu viel für Jakob: „Ihr beraubt mich meiner Kinder! Josef ist nicht mehr da, Simeon ist nicht mehr da, Benjamin wollt ihr auch wegnehmen; es geht alles über mich.“ (Vers 36) Nun bot Ruben seine beiden Söhne als Pfand für Benjamin an, wenn sein Vater erlaubte, dass der Jüngste nach Ägypten mitging. Jakob war nicht bereit dazu, doch die Hungersnot wurde so schrecklich, dass ihnen das Getreide ausging und nur eine erneute Reise nach Ägypten Abhilfe schaffen konnte.
WEITERE RÄTSEL
Nun bot sich Juda, der vorgeschlagen hatte, Josef an die Sklavenhändler zu verkaufen, als Bürge für Benjamin an, wenn Jakob seinen Jüngsten reisen ließ. Schweren Herzens gab Jakob nach und wies sie an, Balsam, Honig, Gewürze, Myrrhe, Pistazien und Mandeln als Geschenke mitzunehmen. Diese Dinge gab es in Kanaan, nicht aber das so dringend benötigte Getreide. Außerdem sollten sie doppelt so viel Geld mitnehmen wie zuvor – den Preis des Getreides und zusätzlich das Geld, das sie in den Säcken gefunden hatten (43, 11-12).
In Ägypten angekommen, wurden sie zu Josefs Haus gebracht. Angstvoll spekulierten sie, dass es um das Geld in den Säcken ging und dass sie mit Sklaverei und Enteignung bestraft werden würden. Josefs Verwalter versicherte ihnen, er habe ihre Zahlung erhalten (zweifellos hatte Josef aus eigener Tasche gezahlt); was sie zurückerhalten hätten, gehöre wirklich ihnen. Dann wurde Simeon freigelassen, um seine Brüder zu begrüßen.
Als Josef nach Hause gekommen war, wurden sie zu ihm geführt. Sie überreichten ihre Geschenke und verneigten sich vor ihm; wieder erfüllten sie seinen prophetischen Traum. Josef fragte, ob ihr Vater noch lebte. Sie antworteten und verneigten sich wieder. Nachdem er gehört hatte, dass sein Vater wohlauf war, fragte Josef, ob Benjamin der jüngste von ihnen sei. Als er seinen Bruder nach so vielen Jahren sah, übermannten ihn plötzlich seine Gefühle. Er verließ den Raum, um die Fassung wiederzuerlangen. Dann kam er zurück, um mit ihnen zu essen; dabei achtete er darauf, dass Benjamins Teller voller war als jeder andere. Die Sitzordnung arrangierte er vom Ältesten bis zum Jüngsten – auch das erstaunte sie: Wie konnte er das wissen?
„Erst jetzt, mit der Versöhnung zwischen Josef und seinen Brüdern, kann die Geschichte weitergehen zur Geburt Israels als Nation, die von der Feuerprobe der Sklaverei zum Gesetz der Freiheit als ein Volk unter der Souveränität Gottes gelangt.“
Nun machte sich Josef an den nächsten Teil seines Plans, die ganze Familie nach Ägypten zu holen. Er wies seinen Verwalter an, Säcke mit Getreide für die Brüder zu füllen, ihnen heimlich das Geld wiederzugeben wie zuvor und in Benjamins Sack seinen Silberbecher zu stecken. Kaum waren sie nach Kanaan aufgebrochen, sandte Josef seinen Verwalter hinter ihnen her, um sie des Diebstahls zu bezichtigen. Sie waren erschüttert – warum sollten sie stehlen? Überzeugt von ihrer Unschuld stimmten sie einer Durchsuchung zu und sagten, wenn irgendetwas bei ihnen gefunden würde, sollte der Betreffende sterben, und sie selbst sollten Sklaven werden. Josef wollte sie auf die Probe stellen, ob sie Benjamin im Stich lassen würden wie einst ihn selbst, wenn es für sie von Vorteil war.
Als der Silberbecher entdeckt wurde, waren sie so schockiert, dass sie sich die Gewänder zerrissen, und sie gingen zurück, um sich Josef zu stellen. Josef gab vor, ihnen durch Wahrsagerei auf die Schliche gekommen zu sein, und akzeptierte ihr kollektives Schuldbekenntnis; er werde Benjamin als Sklaven behalten und sie zu ihrem Vater zurückgehen lassen. Da trat Juda verzweifelt vor und erinnerte Josef an die Situation ihres Vaters – alt, mit einem Lieblingssohn seines Alters, nachdem er einen anderen Sohn verloren hatte. Jakob werde sterben, wenn Benjamin nicht zurückkäme. Juda flehte Josef an, ihn an Benjamins Stelle zu behalten. Damit erkannte Juda tatsächlich seine Schuld dafür an, dass Josef verkauft worden war. Nun war er bereit, sich selbst für den Liebling seines Vaters anzubieten. Außerdem zeigte sich die Rücksicht der Brüder auf ihren Vater – eine Rücksicht, die sie nicht gezeigt hatten, als sie Josef verkauft und Jakob über sein Verschwinden belogen hatten.
Da konnte Josef nicht länger an sich halten. Er schickte alle außer seinen Brüdern aus dem Raum, und laut weinend sagte er ihnen, wer er war. Wieder wussten sie vor Erschütterung nicht, was sie sagen sollten. Noch einmal erklärte Josef ihnen, wer er war; sie sollten nicht bestürzt darüber sein, was sie ihm angetan hatten, denn „Gott hat mich vor euch hergesandt, dass er euch übrig lasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer großen Errettung“ (1. Mose 45, 7).
Da noch etliche schwere Jahre bevorstanden, forderte Josef sie auf, Jakob und seinen gesamten Haushalt nach Ägypten zu holen: „Eilt nun und zieht hinauf zu meinem Vater und sagt ihm: Das lässt dir Josef, dein Sohn, sagen: Gott hat mich zum Herrn über ganz Ägypten gesetzt; komm herab zu mir, säume nicht! Du sollst im Lande Goschen wohnen und nahe bei mir sein, du und deine Kinder und deine Kindeskinder, dein Kleinvieh und Großvieh und alles, was du hast. Ich will dich dort versorgen, denn es sind noch fünf Jahre Hungersnot, damit du nicht verarmst mit deinem Hause und allem, was du hast.“ (9-11)
Zu der emotionalen Wiedervereinigung kam die Gunst des Pharaos. Er sagte ihnen jegliche Hilfe zu, die sie brauchten, um mit ihrem Vater nach Ägypten zu kommen, wo sie leben sollten, ohne dass ihnen etwas fehlte (Vers 17-18).
WIEDER ZUSAMMEN
Als Jakob seine zurückgekehrten Söhne empfing, konnte auch er die Geschichte nicht fassen. Josef am Leben? Unmöglich. Doch sie hatten Beweise, die ihn überzeugten, und so zogen sie nach Ägypten. Als sie in Beerscheba rasteten, hatte Jakob eine Offenbarung. Gott sagte zu ihm: „Ich bin Gott, der Gott deines Vaters; fürchte dich nicht, nach Ägypten hinabzuziehen; denn daselbst will ich dich zum großen Volk machen. Ich will mit dir hinab nach Ägypten ziehen und will dich auch wieder heraufführen, und Josef soll dir mit seinen Händen die Augen zudrücken.“ (46, 3-4)
Jakobs Nachkommenschaft in Ägypten zählte insgesamt 70 Personen – Josefs Söhne mitgerechnet, nicht aber Frauen, Schwiegersöhne und die meisten Enkelinnen (Vers 26-27). Einschließlich der Diener und der übrigen Familienmitglieder könnten es mehr als 300 Personen gewesen sein. Sie gingen nach Goschen, wahrscheinlich im Osten des Nildeltas, wo es reiches Weideland gab. Dort sah Josef seinen Vater wieder – zum ersten Mal nach der langen Trennung. Josef hatte arrangiert, dass einige Familienmitglieder zum Pharao gingen, damit dieser ihnen Land in Goschen gab, da sie Viehzüchter waren. Diese Arbeit würde sie von den Einheimischen absondern, denn Viehhirten waren in Ägypten nicht gut angesehen. Der Pharao zeigte sich großzügig; er bot sogar an, tüchtigen Hirten unter ihnen seine Herden anzuvertrauen. Als Jakob vor den Pharao trat, fragte dieser ihn nach seinem Alter. Jakobs Antwort war bedeutungsschwer, aufrichtig und geprägt durch ein Leben voller Leid: „Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre; wenig und böse ist die Zeit meines Lebens und reicht nicht heran an die Zeit meiner Väter in ihrer Wanderschaft.“ (47, 9)
Während die Hungersnot anhielt, verwaltete Josef die Vorräte so klug, dass der Pharao als Gegenleistung für Getreidezuteilungen nach und nach alles Land in Ägypten unter seine Kontrolle bekam (Vers 13-26).
In Ägypten lebte Jakob noch 17 Jahre, und seine Familie wurde groß. Gegen Ende rief er Josef zu sich und ließ ihn versprechen, dass er ihn bei seinen Vorfahren in Kanaan begraben werde. Kurz darauf wurde Jakob krank, und Josef besuchte ihn mit seinen Söhnen Manasse und Ephraim. Jakob erinnerte Josef an Gottes Verheißung für seine Nachkommen und seinen Besitz: „Der allmächtige Gott erschien mir zu Lus im Lande Kanaan und segnete mich und sprach zu mir: Siehe, ich will dich wachsen lassen und mehren und will dich zu einer Menge von Völkern machen und will dies Land zu Eigen geben deinen Nachkommen für alle Zeit.“ (1. Mose 48, 3-4) Daran dachte Jakob, als er nun die beiden in Ägypten geborenen Söhne Josefs durch einen besonderen Segen in die Familie der Kinder Israel aufnahm. Er legte beiden die Hände auf, doch überkreuzt, sodass die Rechte auf dem Kopf des Jüngeren lag und dieser den Segen des Erstgeborenen bekam. Dies ist ein weiteres Beispiel für unerwartete Ergebnisse in der Genesis, insbesondere wenn es darum geht, dass der eine auserwählt ist und der andere nicht: Ismael und Isaak, Jakob und Esau, Ruben und Josef/Juda (siehe 1. Chronik 5, 1-2). In diesem Fall gehörten die Jungen von nun an zur Abstammungslinie Abrahams, Isaaks und Jakobs (1. Mose 48, 16), obgleich sie zur Hälfte Ägypter waren. Zusammen würden sie „wachsen und viel werden auf Erden“. Josef versuchte, den vermeintlichen Irrtum seines Vaters zu korrigieren, doch Jakob beharrte: „Ich weiß wohl, mein Sohn, ich weiß wohl. Dieser [Manasse] soll auch ein Volk werden und wird groß sein, aber sein jüngerer Bruder [Ephraim] wird größer als er werden, und sein Geschlecht wird eine Menge von Völkern werden.“ (Vers 19)
Diese beiden Söhne Josefs hatten eine große Zukunft mit vielen Nachkommen, doch Ephraims Linie wurde dominanter – nicht immer numerisch (siehe 4. Mose 1, 32-35 und 4. Mose 26, 28-37), aber in Bezug auf Führungspositionen. Später, als die Kinder Israel in das Gelobte Land zurückzogen, bezeichnete der Name „Ephraim“ die nördlichen Stämme Israels – eine Menge von Völkern/Stämmen (siehe Jesaja 7: 2, 5, 9, 17; Hosea 9, 3-16).
„Dann beginnt das große nationale Drama der Sklaverei und des Exodus. Doch das Buch Genesis schließt mit der Versicherung der Befreiung. Das Volk Israel wird das Land besitzen, das Gott ihm in seinem Bündnisschwur mit den Patriarchen zugesagt hat.“
SEGEN UND UNSEGEN
Jakob wusste, dass sein Ende nahte, und er sagte Josef, nach seinem Tod werde der Gott, dem sie dienten, die Familie in das Land Kanaan zurückführen – eine Prophezeiung des Auszugs aus Ägypten (1. Mose 48, 21). Bald darauf rief er alle seine Söhne zusammen, um ihnen ihre Zukunft als Stämme, ihren individuellen Charakter und ihre Geschichte zu erklären (49, 1, 28).
Rubens sexuelle Sünde, mit der Nebenfrau Bilha an die Stelle seines Vaters zu treten, war der Grund dafür, dass ihm sein Erstgeburtsrecht aberkannt wurde. Sein emotional instabiler Charakter sollte dazu führen, dass er sich nicht so auszeichnete, wie es aufgrund seiner bevorzugten Stellung in der Familie hätte sein sollen (Vers 3-4).
Als Nächstes wird berichtet, wie Jakob sich von den Charakteren seines Zweit- und Drittgeborenen, Simeon und Levi, distanzierte; er erinnerte an ihre rasende Wut und extreme Gewalt gegen die Männer von Sichem (1. Mose 34): „Verflucht sei ihr Zorn.“ (49, 7) Deshalb sollte es ihr Los sein, unter den Stämmen Israels versprengt zu leben, statt eigene Territorien zu haben.
Die ersten drei Söhne erhielten tatsächlich keinen Segen, sondern Jakob sagte ihnen die Folgen ihrer Charaktereigenschaften voraus. Mit Juda ändert sich die Richtung. Er sollte einen Teil des Segens erhalten, den der Erstgeborene verspielt hatte: „Juda, du bist’s! Dich werden deine Brüder preisen. Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Nacken sein, vor dir werden deines Vaters Söhne sich verneigen [...] Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“ (Vers 8, 10) Später nahm der Stamm Juda eine machtvolle Führungsrolle ein, die Jakob mit dem Bild eines Löwen beschrieb (Vers 9).Von diesem Stamm sollte letztlich der Messias kommen (Vers 10).
Sebulon sollte ein Stamm werden, der am Meer lebte, in der Nähe von Sidon am Mittelmeer (Vers 13). In der späteren Geschichte Israels hatte das Gebiet des Stammes Sebulon keinen direkten Zugang zum Meer. Es lag nach Osten und Westen zwischen anderen israelitischen Stämmen, doch dank der Lage an wichtigen Handelsrouten hatte der Stamm es leicht, Handel zu treiben, auch Überseehandel. Issachar sollte in einem benachbarten Gebiet leben und stark werden; er sollte ein Stamm von Landarbeitern werden und zur Bequemlichkeit neigen (Vers 14-15), aber auch von der Nähe der Handelsrouten zu Wasser und zu Land profitieren (5. Mose 33, 18-19).
Dan sollte Richter werden und ein erfolgreicher Krieger, der auf Jahwes Heil wartet (1. Mose 49, 16-18). Auch Gad sollte angegriffen werden, aber zurückschlagen. Sein Stammesgebiet sollte im Osten des Jordans liegen, Invasionen aus der Wüste ausgesetzt sein und ständiger Überwachung bedürfen.
Über Asser sagte Jakob nur zweierlei: Er werde fettes Brot essen und Delikatessen wie für Könige produzieren (Vers 20). Nach der Rückkehr der Kinder Israel in das Gelobte Land lag sein Stammesgebiet an der Mittelmeerküste und war für seine Oliven bekannt. Ein kurzer Vers erklärt, Naftali werde schnell und wendig wie ein Hirsch sein und gut mit Worten umgehen können. Diese Merkmale sollten sich später in der Geschichte des Stammes zeigen (siehe Richter 4, 1-24 und 5, 1-31).
Die letzten beiden Segnungen von Jakob galten seinen beiden Söhnen mit Rahel, Josef und Benjamin. Was hielt die Zukunft für sie bereit?
„Dieser Schluss [Genesis 50] ist von zentraler Bedeutung für das biblische Drama der Erlösung, denn wenn Brüder nicht zusammenleben können, wie sollen dann Völker es können? Und wenn Völker nicht zusammenleben können, wie kann dann die Welt des Menschen überleben?“
Benjamin wird als Krieger beschrieben, der einem Wolf gleicht. Er werde mit Erfolg kämpfen, er werde seine Beute in Stücke reißen und verteilen (1. Mose 49, 27). Späteren Bibeltexten zufolge kamen in den Jahren danach mehrere Kämpfer vom Stamm Benjamin. Der längste Segen in diesem Bericht gilt Josef (Vers 22-26). In seinem Zentrum steht Fruchtbarkeit und Reichtum durch seine Nachkommen Ephraim und Manasse, die zusammen der volkreichste der Stämme wurden. Die Passage erinnert an Josefs viele Jahre des Kampfes gegen Verfolger, seine geistliche Standhaftigkeit, seinen Glauben und sein Vertrauen auf Gott, der in diesem Vers mit fünf verschiedenen Namen bezeichnet wird: der Mächtige in Jakob, der Hirte, der Fels Israels, deines Vaters Gott und der Allmächtige.
DAS ENDE DER PATRIARCHEN
Als Jakob seine Erklärungen und Segnungen vollendet hatte, erklärte er, dass er in der Nähe von Mamre in Kanaan bestattet werden wollte, bei seiner Familie – Abraham und Sara, Isaak und Rebekka und seiner Frau Lea (Vers 29-31). Als er zu Ende gesprochen hatte, starb er. Jakob wurde von den Ägyptern 70 Tage lang betrauert und in der landesüblichen Art einbalsamiert; dann wurde er mit Erlaubnis des Pharao zu seiner Grabstätte nach Kanaan gebracht.
Josefs Brüder waren natürlich besorgt, dass Josef nach Jakobs Tod Vergeltung üben könnte. Sie ließen ihm ausrichten, dass Jakob sie angewiesen hatte, ihn um Vergebung zu bitten. Josefs Reaktion war typisch für ihn: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen.“ (50, 19-21) Als Josef selbst starb, änderte sich viel für die Familie; doch dies geschah erst 54 Jahre später. In dieser Zeit sah er drei Generationen von Nachkommen Ephraims und Manasses, ehe er im Alter von 110 Jahren starb. Er wurde einbalsamiert und in einen Sarg gelegt (Vers 26), bis sich seine prophetischen Worte an seine Familie erfüllten: „Wenn euch Gott heimsuchen wird, so nehmt meine Gebeine mit von hier“, zurück in das Land Kanaan (Vers 25).
So schließt das erste Buch der Bibel; es lässt noch im Ungewissen, wie es den Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs in Ägypten ergehen sollte, als die Zeit Josefs vorbei war.
Im nächsten Artikel der Reihe Das Gesetz, die Propheten und die Schriften beginnen wir mit dem Buch Exodus.
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