Thomas von Aquin: im Licht des menschlichen Verstandes

War Thomas von Aquin Theologe oder Philosoph? Den meisten Darstellungen zufolge war er beides. Seine Art, die beiden Disziplinen miteinander zu verbinden, führte zu einer neuen Herangehensweise an die Bibel und ihre Lehren. 

Thomas von Aquin (ca. 1225–74) ist eine der prominentesten Gestalten in der Geschichte des Christentums. Es ist schwierig, irgendetwas über die Entwicklung der Theologie während der letzten 2 000 Jahre zu sagen, ohne ihn zu nennen. Nur wenige verstehen allerdings, wie zentral seine Bedeutung für das immer weitere Abweichen des Christentums von der biblischen Lehre war.

Thomas stammte aus einer Adelsfamilie in Roccasecca im heutigen Mittelitalien und wurde im Benediktinerorden erzogen. Mit 14 Jahren wurde er an die Universität von Neapel geschickt – eine der wenigen Institutionen, wo damals die Werke des Aristoteles gelehrt wurden – und die frühe Unterweisung in den Schriften dieses griechischen Philosophen wurde zur Grundlage seiner Art, zu denken. Hier wurde er auch von den Lehren der Dominikaner beeinflusst, in deren Orden er schließlich eintrat, entgegen den Wünschen seiner Familie.

WERK UND WIRKGESCHICHTE 

Im Zuge seiner Laufbahn nahm Thomas’ Werk einen gewaltigen Umfang an; es umfasst zahlreiche Texte und Kommentare sowohl zu biblischen als auch zu aristotelischen Schriften. Am bekanntesten ist er für die Summa Theologica (1266–73, alternativ auch Summa Theologiae), die das Standardlehrbuch für Theologiestudenten werden sollte – aber nicht wurde. Trotz anfänglicher zeitgenössischer Widerstände ist dieses Buch heute, wie der Philosoph Simon Blackburn schreibt, „allgemein anerkannt als die krönende Leistung mittelalterlicher systematischer Theologie“.

Heute gilt das Interesse an Thomas vor allem seiner Position innerhalb der Wiederentdeckung des aristotelischen Denkens. Er repräsentiert für manche einen Mittelweg, da er Aristoteles’ Denken weder unqualifiziert übernahm noch bekämpfte. Einerseits unterstützte er die neue aristotelische Naturphilosophie. Er vertrat die Ansicht, dass der Mensch kein machtsloser Spielball einer göttlichen Ordnung sei, sondern handelndes und verantwortliches Subjekt. Andererseits blieb er von Grund auf ein christlicher Theologe, der – was recht unkonventionell war – Aristoteles als Deisten sah. Dies bedeutet, dass seine Art, zu denken, eine besondere Verwebung von Theologie und naturalistischer Rationalität war.

Sein Werk wurde schon zu seinen Lebzeiten bekannt, obwohl es während einer kurzen Zeitspanne zustande kam. Im Jahr 1323 wurde Thomas nach der gebotenen Untersuchung seines Lebens und seiner Wunder heilig gesprochen. Papst Johannes XXII. warf sein Gewicht in die Waagschale, indem er erklärte, die Lehre dieses Mannes sei selbst ein Wunder.

Thomas’ Einfluss nahm zu, und schließlich galt er, wie es der Philosoph Bertrand Russell ausdrückte, als „der größte der scholastischen Philosophen“. Seine Schriften sind absolut grundlegend für den modernen Katholizismus. Russell erklärt: „In allen katholischen Bildungseinrichtungen, die Philosophie lehren, muss sein System als das einzig richtige vermittelt werden; das ist seit einem Reskript des Papstes Leo XIII. von 1879 Vorschrift.“

Der hl. Thomas […] ist nicht nur von historischem Interesse, sondern ein lebendiger Einfluss, wie Platon, Aristoteles, Kant und Hegel – eigentlich mehr wie die beiden Letzteren.“

Bertrand Russell, History of Western Philosophy

Seine Schriften und ihre Abweichung von der ursprünglichen biblischen Lehre zu verstehen bedeutet, zu verstehen, wie weit sich das moderne Christentum von der Lebensweise der Bibel entfernt hat.

DURCH MENSCHLICHEN VERSTAND 

Einer der wirkmächtigsten Aspekte von Thomas’ Denken war die Synthese von zwei Wegen der Wahrheitsfindung: göttlicher Offenbarung und menschlichem, verstandesmäßigem Forschen. Der Grundgedanke dabei war: Wenn Gott wahr ist und wenn menschliche Erkenntnis aufgrund rationalen Forschens ebenfalls wahr ist, wie kann sich dann beides widersprechen? Er lehrte, dass sich beides vielmehr überschneidet. Zuerst offenbart Gott bestimmte Dinge, die auch der Mensch entdecken kann; und für alles, was darüber hinausgeht, ist der Mensch auf göttliche Offenbarung angewiesen.

Philosophen wie Thomas von Aquin mussten ihre Arbeit also von verschiedenen Seiten angehen. Dieses Unterfangen erweiterte er in seinem anderen Hauptwerk, der Summa Contra Gentiles, mit der er Menschen, die noch nicht an die Bibel als Wahrheit glaubten, das Christentum erklären wollte. Um dies zu erreichen, berief er sich in den ersten drei von vier Teilen überhaupt nicht auf göttliche Offenbarung. Dabei ging er von dem Grundgedanken aus, dass Naturphilosophie dort, wo sie mit der Heiligen Schrift übereinstimmt, diese unwiderlegbar bestätigen und somit die noch Unbekehrten überzeugen kann.

Hierfür waren zwei Prinzipien von zentraler Bedeutung. Das erste ist, dass verstandesmäßiges Forschen, richtig angewandt, nie etwas offenbaren wird, das im Widerspruch zu Gott steht. Das zweite ist, dass es bestimmte Wahrheiten gibt, die verstandesmäßiges Forschen weder beweisen noch widerlegen kann, und dass man in diesen Fällen einfach Gottes Offenbarung als Fakt akzeptieren muss.

Diese Argumentation ist verlockend – was Thomas bei seinen Prinzipien jedoch nicht berücksichtigte, ist die Unzuverlässigkeit des menschlichen Verstandes (Jeremia 17, 9; 10, 23), die sich nirgendwo deutlicher zeigt als bei seiner Abkehr vom biblischen Sabbat.

Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes.“

2. Mose 20, 8-10

Der Sabbat, den die hebräische Heilige Schrift definiert, ist der siebte Tag der Woche. Im 13. Jahrhundert wurde er, ebenso wie andere aus der Thora übernommene Feiertage, von vielen in abwertendem Sinn als „jüdisch“ und somit besudelt von der Schuld am Tod Jesu Christi wahrgenommen. Dieser Schuldzuweisung begegnet übrigens der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer mit der Feststellung, dassalle, Juden wie Nichtjuden, Sünder waren – und sind – und dadurch Mitschuld am Tod Jesu tragen (siehe Römer 3, 9–26).

Der erste Tag der Woche, der Sonntag, welcher seit Jahrhunderten als „Tag des Herrn“ bezeichnet wurde, bestand zunächst neben dem biblischen Sabbat. Den Sonntag zu feiern wird nirgendwo in der Bibel geboten; er wurde zunächst – allerdings irrtümlich – als Tag der Auferstehung Christi gefeiert. Seine Befürworter verwiesen darauf, dass dieser Tag erkennbar nicht jüdisch sei (obwohl Christus natürlich vom Stamm Juda war), und fragten, was falsch an dem Wunsch sei, doppelt so viele Gottesdienste zu haben wie zuvor. Im 7. Jahrhundert war dann die strikte Einhaltung des Sonntags Pflicht.

Was Thomas von Aquin in der Summa Theologica darüber schrieb, trug wesentlich dazu bei, die Bedeutung der beiden Tage zu verschmelzen und letztlich den ursprünglichen, biblischen Sabbat abzuschaffen. Seit dem 7. Jahrhundert bestand laut dem Bibelwissenschaftler Andrew T. Lincoln „das Bestreben, diesem Gedanken der Ruhe für den Gottesdienst am Tag des Herrn eine theologische Begründung zu geben und ihn auf einer biblischen Basis zur Pflicht zu machen“. Doch es war Thomas, der „die erste vollumfängliche theologische Rechtfertigung für die Verlegung des Sabbat etablierte“ (From Sabbath to Lord’s Day).

In der Summa Theologica zeigt Thomas zuerst in vier „Einwänden“ potenzielle Argumentationen gegen den Sabbat auf, um sie dann auseinanderzunehmen und abzuweisen. Die erste besagt, dass der Dekalog (die Zehn Gebote) nicht nur von Gott gegeben ist, sondern auch einem zugrunde liegenden Naturgesetz entspricht. Daher sei das Gebot, den Sabbat zu halten, nicht nur ebenso wichtig wie jedes der anderen Gebote, sondern außerdem – und das ist entscheidend – ein Prinzip, das durch verstandesmäßiges Forschen erkennbar und somit nicht völlig abhängig von göttlicher Offenbarung sei. Dies war eine aristotelische Argumentation reinsten Wassers. Worauf es hier ankommt, ist, dass Thomas den biblischen Sabbat und den Tag des Herrn wie ein und dasselbe behandelt. Dies impliziert, das Entscheidende sei das Prinzip eines Ruhetags, nicht aber, welcher Tag dafür gewählt werde.

Das war effektiv eine Verfälschung der Begriffe, eine Diskussion eines Seitenaspekts, in deren Verlauf der Sabbat mit dem Tag des Herrn verschmolzen und gleichgesetzt wurde. Thomas schien für das biblische Gebot einzutreten, doch er ersetzte seinen wichtigsten Aspekt – dass der siebte Tag zu feiern ist – durch den aus dem Heidentum stammenden Sonntagskult. Danach war es ein Leichtes, einen der Ruhetage abzuschaffen, da zwei redundant waren; und der Verlierer war selbstverständlich der „zu jüdische“ Sabbat.

Der Einfluss Thomas von Aquins ist auch heute machtvoll, nicht zuletzt in dieser Frage. Im herkömmlichen Christentum wird überwiegend der Sonntag gefeiert und der Sabbat am siebten Tag als rein jüdisch abgetan. Thomas’ Argumentation über solche Themen ist ein Meilenstein in der Abkehr der Christentheit von Gottes Grundwahrheiten, wie sie in seinem Wort, der Bibel, offenbart werden.