Das Evangelium der Maria Magdalena
Was wissen wir wirklich über Maria Magdalena?
Die Bibel überliefert wenig Einzelheiten über sie. Doch in außerbiblischen Texten ist Maria Magdalena eine überlebensgroße Figur. Was können wir über sie und ihre historische Bedeutung wissen?
Einer der vielen Frauen, deren Geschichten in der Bibel vorkommen, wurde in den letzten Jahren gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet. Sie ist eine der am häufigsten genannten Jüngerinnen Jesu und kommt in jedem der vier Evangelien vor. Im Katholizismus wird sie als heilige Maria Magdalena bezeichnet und gleichzeitig als Apostelin und Sünderin identifiziert. Und in apokryphen Texten wie dem Evangelium der Maria finden sich faszinierende Spekulationen über ihr Leben und ihre Rolle in der Urkirche.
In ihrem Buch Mary Magdalene Revealed: The First Apostle, Her Feminist Gospel and the Christianity We Haven’t Tried Yet stellt die Theologin Meggan Watterson das Evangelium der Maria als Quelle neuen Wissens und religiöser Praxis heraus. Wattersons Website beschreibt das Evangelium der Maria als „ebenso alt und authentisch wie jedes der Evangelien, die die christliche Bibel umfasst“. Weiter steht dort: „Es wurde tief in der ägyptischen Wüste vergraben, nachdem im 4. Jahrhundert durch ein Edikt befohlen wurde, alle Kopien zu vernichten. Zum Glück waren einige rebellische Mönche weise genug, das zu verweigern – und ihrem Ungehorsam und spirituellen Mut verdanken wir, dass mehrere Handschriften des einzigen Evangeliums, das im Namen einer Frau geschrieben wurde, erhalten geblieben sind: das Evangelium der Maria Magdalena.“
Das ist faszinierend, aber sind dieses Evangelium und seine Geschichte vertrauenswürdig? Wer ist die Person, deren Namen das Buch trägt, und was können wir mit Sicherheit über sie wissen?
Schauen wir zunächst, was in der Bibel über Maria Magdalena steht, und vergleichen wir das dann mit anderen Quellen.
Wer sie war
Der Beiname Magdalena gilt als Hinweis auf Marias Herkunft – auf den Ort Magdala an der Westseite des Sees Genezareth zwischen Kana and Nazareth. Die Bibel berichtet, dass Jesus am Anfang seines irdischen Wirkens mehrmals durch dieses Gebiet zog, dort seine Botschaft verbreitete und aufmerksame Zuhörer fand, die seinen Worten glaubten und ihm folgten.
Einer der frühesten Hinweise auf Maria ist im Lukasevangelium, wo sie als Mitglied der Gemeinschaft von Gläubigen genannt wird: „Und es begab sich danach, dass er durch Städte und Dörfer zog und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes; und die Zwölf waren mit ihm, dazu einige Frauen, die er gesund gemacht hatte von bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, genannt Magdalena, von der sieben böse Geister ausgefahren waren, und Johanna, die Frau des Chuzas, eines Verwalters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihnen dienten mit ihrer Habe“ (Lukas 8, 1–3).
Die Bibel erwähnt zwar, dass Maria von dämonischen Einflüssen geheilt worden war, gibt aber nichts Näheres darüber an, da es für ihre weitere Geschichte nicht relevant zu sein scheint. Es wird nicht ausdrücklich berichtet, dass es Jesus war, der sie geheilt hatte, aber ihre früheren Probleme sind gelöst, und offenbar ist sie seither eine Jüngerin Jesu.
„Maria Magdalena ist die einzige wichtige Figur im Neuen Testament, von der berichtet wurde, dass aus ihr Dämonen ausgetrieben worden seien. Aber dies ist die einzige Erwähnung der Maria Magdalena in den Evangelien vor der Kreuzigung Jesu.“
Diese Passage im Lukasevangelium legt außerdem nahe, dass Maria eine begüterte Frau war, die das Wirken Jesu finanziell unterstützte. Spätere Beispiele machen deutlich, dass dies im ersten Jahrhundert eine gängige Praxis war. So unterstützten Frauen wie die in Apostelgeschichte 16 erwähnte Lydia die Menschen, die Jesus nachfolgten.
Alle anderen Bibelstellen, in denen Maria Magdalena vorkommt, handeln von den letzten Stunden Jesu. An der Stätte der Kreuzigung hatten offenbar viele Jünger ihren Meister im Stich gelassen, nicht aber Maria und andere Jüngerinnen, „die von ferne zusahen“, als Jesus starb (Matthäus 27, 55–56; Markus 15, 40–41).
Maria Magdalena war bei dem ganzen Geschehen in der Nähe geblieben, hatte gewartet, beobachtet und sich gemerkt, wo Jesus bestattet wurde (Markus 15, 47). Die Bibel überliefert, dass sie und andere Frauen später Duftöle brachten, um seinen Leichnam zu salben, aber das Grab schon geöffnet vorfanden (Markus 16, 1). Maria war die Erste, die ihn nach seiner Auferstehung sah; so trug er ihr auf, den anderen Jüngern davon zu berichten (Johannes 20, 10–18).
Später erschien Jesus in verschiedenen Kontexten den übrigen Jüngern und auch vielen anderen (1. Korinther 15, 3–8). Die Bibel nennt Maria einfach als eine dieser vielen Zeugen, wenn auch diejenige, die der Gruppe der verängstigten Jünger die erste Botschaft brachte.
Aber am Schluss der Evangelien endet auch Maria Magdalenas Geschichte.
Wer sie nicht war
Maria Magdalenas biblische Geschichte ist unkompliziert, aber es gibt einige verbreitete Missverständnisse über sie.
Eine beständige Vorstellung ist, dass sie eine ehemalige Prostituierte war. Lukas 7 beschreibt eine Sünderin, die Jesus die Füße salbte und der vergeben wurde. Der Name dieser Frau wird allerdings nicht genannt und in der Bibel deutet nichts darauf hin, dass sie Maria Magdalena war.
Ein ähnliches Ereignis in Johannes 12 trägt zu dieser Verwirrung bei. Unter den Anhängern Jesu waren ein Mann namens Lazarus und seine beiden Schwestern Maria und Martha. Auch diese Maria salbte ihn mit Öl. Deshalb wird ihre Identität mit der der unbenannten Frau bei Lukas verquickt. Mehrere Geschichten wurden zu einer verschmolzen, sodass eine zusammengesetzte Figur entstand, die gemeinhin als Maria Magdalena identifiziert wird.
Diese Konfusion wurde 591 n. Chr. bedauerlicherweise dadurch formalisiert, dass Papst Gregor I. eine Predigt schrieb, in der er Maria Magdalena als die Sünderin von Lukas 7 identifizierte und ihre Sünde ausdrücklich als sexuell bezeichnete – ein Detail, das im Bibeltext nicht vorkommt. Diese Vorstellung scheint eher auf einem römisch-katholischen Dogma zu beruhen als auf dem genauen Lesen des Texts. Zwar nahm die römisch-katholische Kirche diese Lehre 1969 in aller Stille zurück, doch die Vorstellung hält sich weiter.
Eine weitere Idee, die in jüngerer Zeit aufgekommen ist, hat die Legende um Maria Magdalena noch größer gemacht. Es wurde behauptet, Jesus habe eine körperliche Beziehung mit ihr gehabt – eine Theorie, die von der Populärkultur in Romanen und Filmen wie Die letzte Versuchung Christi aufgegriffen worden ist. Die Legende entwickelte sich weiter: Maria wurde der „heilige Gral“, es hieß, sie und Jesus hätten zusammen Kinder gehabt und aus seiner Blutlinie seien die französischen Merowingerkönige hervorgegangen.
Die Vorstellung einer körperlichen Beziehung wird durch eine Zeile im gnostischen Philippusevangelium unterstützt. Diese apokryphe Schrift, die 1945 als Bestandteil einer Sammlung von Kodizes im ägyptischen Nag Hammadi entdeckt wurde, enthält die reizvolle Aussage „Der [Heiland liebte] Maria Magdalena mehr als [alle] Jünger, und er küsste sie [oft]mals auf ihren [Mund]. Die übrigen Jünger sagten zu ihm: Weshalb liebst du sie mehr als uns alle?“
Dieser Text ist jedoch schwer zu entziffern, weil die Originalhandschrift beschädigt ist. Die antiken Papyrusbogen haben Löcher, sodass der Text lückenhaft ist. Mit Ellipsen markierte Stellen sind zu lang, um Schlüsse auf die fehlenden Wörter zuzulassen. Beim obigen Beispiel ist der Text mit der Ellipse daher unvollständig. Um auf die Wörter in eckigen Klammern zu kommen und kleinere Lücken zu füllen, stützen sich Paläografen auf Anhaltspunkte in anderen Passagen der Handschrift oder vergleichbare Texte aus der Zeit, in der sie geschrieben wurde. Aber diese Wörter sind Vermutungen. Somit könnte das fehlende Wort statt Mund ebenso leicht Hand, Wange, Stirn oder Füße lauten. Deshalb belassen andere Kommentatoren es einfach dabei, dass das Wort unbekannt ist.
„Der Autor des Philippusevangeliums versucht nicht anzudeuten, dass Jesus und Maria ein Liebespaar waren. Er will Maria nur auf die Ebene anderen Jünger oder sogar über sie hinaus heben.“
Können wir zu dem Schluss kommen, dass dieser Text ein Beweis für eine nicht platonische Beziehung oder gar eine Ehe ist? Als die Evangelien geschrieben wurden, war ein Kuss eine normale Form der Begrüßung und musste keinerlei sexuelle Konnotation haben. So schloss der Apostel Paulus seinen zweiten Brief an die Korinther mit den Worten: „Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss“ (2. Korinther 13, 12).
Diese gleiche Form des Grüßens findet sich in mehreren anderen Büchern des Neuen Testaments, darunter dem Matthäusevangelium, wo Judas Jesus mit einem Kuss begrüßt und verrät. So reizvoll es sein mag – es gibt keinen Beleg dafür, dass dieser Gruß auf eine körperliche oder eheliche Beziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena hindeutet.
Gnostisches Gedankengut aus dem zweiten Jahrhundert
Das Evangelium der Maria wurde zuerst als Teil des Codex Berolinensis Gnosticus 8502 im 19. Jahrhundert in Ägypten entdeckt. Nur sechs der 19 Seiten langen Schrift wurden gefunden. Einige Jahrzehnte später tauchten zwei weitere Fragmente auf und 1955 wurde eine erste Übersetzung veröffentlicht.
Esther A. de Boer, frühere Professorin für Neues Testament an der reformiert-evangelischen Theologische Universiteit im niederländischen Kampen, hat mehrere Bücher über das Evangelium der Maria geschrieben. In The Gospel of Mary: Beyond a Gnostic and a Biblical Mary Magdalene schrieb sie, dieses apokryphe Evangelium sei „klar anders als die Evangelien im Neuen Testament. Während die neutestamentlichen Evangelien das Wirken Jesu während seines irdischen Lebens beschreiben, beschreibt das Evangelium der Maria einen Dialog nach der Auferstehung, der eher philosophisch ist“.
Mit anderen Worten: Dieses Evangelium gibt Gespräche zwischen den Jüngern und Maria wieder, die nach der Auferstehung geführt wurden. Petrus bittet Maria, ihm das Geheimwissen mitzuteilen, das Jesus ihr gegeben hat. Dann folgt eine der Lücken in der Handschrift und danach beschreibt sie, wie die Seele unter der Kontrolle verschiedener böser Mächte durch die himmlischen Reiche aufsteigt.
Laut de Boer überliefert das Neue Testament solche nachösterlichen Gespräche zwischen Jesus und den Jüngern, aber „dabei geht es nicht um Themen wie Materie und Natur oder gar den Ursprung einer Vision, die Beziehung zwischen Seele, Geist und Verstand und die Gefahren, die die Seele auf ihrem Weg zur ewigen Ruhe bestehen muss“. Die Evangelien und die Apostelgeschichte beschreiben diese Gespräche als eher praxisbezogen. Die Jünger Jesu wollten wissen, wie sich das Leben für sie ändern würde: Was für Ereignisse sollten sie als Nächstes erwarten? Welche neue Bedeutung würde Christus der heiligen Schrift geben? Was sollten die Jünger für die Zukunft planen?
Geheimwissen
Vom Material in diesen apokryphen Schriften dürfte viel aus einer anderen philosophischen Tradition kommen, die sich neben dem Judentum des ersten Jahrhunderts und der neutestamentlichen Urkirche entwickelte.
Der Gnostizismus war eine Kombination aus Gedanken und synkretistischen Überzeugungen, in deren Mittelpunkt Geheimwissen stand (griechisch gnosis), und manche Christen des zweiten Jahrhunderts wurden von ihm beeinflusst. Ihm zufolge war der menschliche Körper verderbt, der menschliche Geist dagegen von Natur aus gut. Die Seele aus ihrem physischen Gefängnis zu befreien, war deshalb das eigentlich Wichtige im Streben nach Erlösung. Die Seele zu befreien, erforderte Zugang zu geheimnisvollem Wissen, das nur die Gnostiker besaßen.
„Selbst im ersten Jahrhundert gab es Grenzen für Glauben und Verhalten – Grenzen, von denen die Anhänger Jesu wussten, dass sie sie nicht überschreiten sollten; und die gnostischen Schriften überschritten diese Grenzen in mehrfacher Hinsicht.“
Manche Gnostiker behaupteten, Jesus habe keinen realen, physischen Körper gehabt (denn der wäre böse gewesen), weshalb seine Menschennatur und Auferstehung Illusionen gewesen seien. Andere lehrten, er habe zwar einen physischen Körper gehabt, doch dieser sei von seinem Geist getrennt gewesen. So habe der Körper, den er bewohnte, gelitten und sei gestorben, der Geist aber habe nie gelitten.
Der Apostel Paulus und andere biblische Autoren gingen gegen gnostische Vorstellungen, die im ersten Jahrhundert bereits aufkamen, ebenso aktiv vor wie gegen andere, die im Widerspruch zur Lehre Jesu standen. Paulus mahnte die Urkirche: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt und nicht auf Christus“ (Kolosser 2, 8).
Die Risiken des Spekulierens
Der Neutestamentler Ben Witherington III erklärt: „Es mag Mode sein zu empfehlen, wir sollten großherzig sein und die gnostischen Texte neben dem Neuen Testament als ebenso gültige Quelle der Wahrheit über das frühe Christentum einbeziehen, doch die Wahrheit ist, dass nicht beide Quellen über den historischen Jesus recht haben können – oder über die Natur der Bewegung, die er in Gang brachte, oder über die Menschen, mit denen er Umgang hatte, zum Beispiel Maria Magdalena.“
Mit anderen Worten: Es hatte Gründe, dass gnostische Schriften wie die Evangelien von Philippus und Maria Magdalena nicht in die Bibel aufgenommen wurden – sie sind nicht nur späteren Datums, sondern sie präsentieren widersprüchliche Gedanken, die nicht damit vereinbar sind, wer Jesus war und was er lehrte.
Ein weiterer früher Autor des Neuen Testaments legte den Menschen, die Jesus nachfolgten, ans Herz, dass sie eine verlässliche Quelle hatten, wenn es schwierig wurde, und sich nicht auf Geheimwissen oder Philosophie stützen mussten: „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt hast und was dir anvertraut ist; du weißt ja, von wem du gelernt hast, und dass du von Kind auf die Heilige Schrift kennst, die dich unterweisen kann zur Seligkeit durch den Glauben an Christus Jesus. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt“ (2. Timotheus 3, 14–17).
Es muss natürlich spannend sein, auf ein bisher unentdecktes Dokument zu stoßen – ein Stück Geschichte, das eine andere Geschichte zu erzählen scheint als die, die wir kennen. Eine neue Wahrheit, eine neue Auslegung, ein neuer Gedanke, das kann faszinieren. Es kann bisherige Überzeugungen infrage stellen, vielleicht neue Möglichkeiten auftun, zu sehen und in Kontext zu setzen, was wir verstehen. Doch auch wenn es wichtig ist, für Korrekturen falscher Vorstellungen offen zu sein, ist Vorsicht geboten, wenn Widersprüche sichtbar werden und wenn fehlende Informationen oder persönliche Voreingenommenheit zu Spekulation oder unbegründeten Schlüssen führen.
Wenn in der Bibelforschung ein neu entdecktes Dokument, Fragment oder Denken nicht mit dem gründlich gelesenen Bibeltext vereinbar ist, lohnt sich eine kritische Prüfung. Spekulieren und das Ergänzen von Textlücken nach unseren eigenen Ansichten, Traditionen oder Philosophien kann leicht zu Konfusion und Irrtum führen.